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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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roch ungewaschen und süß. Erika legte, während sie zeichnete, eine Hand um die Schultern des Kleinen, spielte mit seinem Haar. Ihre eigene Tochter hatte sie nie so unbeschwert berührt. «Wo fährt sie denn hin, deine Lokomotive?», fragte sie.
    Â«Nach Afrika.»
    Erika ließ einen Palmwedel ins Bild hineinwachsen, von weit her. Dante schaute ihr beim Zeichnen zu und sprach erst weiter, als der kleine Junge zu den anderen zurückgerannt war.
    Â«Das gefällt mir eben … wie du über den Rand hinaus …»
    Â«Das hab ich immer so gemacht. Ich wusste schon als Kind nicht, wo das Blatt aufhört.» Die Zeichnung, die sie dem kleinen Jungen in die Hand gedrückt hatte, zeigte nur einen Ausschnitt. Die Lokomotive war größer als das Blatt. Der Zug länger. Die Geleise gingen weiter, die Welt hinter den Geleisen auch.
    Â«Man sieht auch … das, was nicht auf dem Blatt ist. Das gefällt mir.» Dante wühlte in seiner Tasche, und Erika senkte den Kopf. Waren ihre Phantasien also doch nicht so lächerlich gewesen. Der junge Mann hatte etwas in ihr gesehen, das nach dem Tod ihres Vaters niemand mehr gesehen hatte. Er hatte sie erkannt. Dass so etwas möglich war. An einem gewöhnlichen Dienstagmorgen.
    Â«Hier, das ist …» Dante schob ein Papierpaket über den Tisch. Es mussten tausend Seiten sein, wie Altpapier mit Haushaltsschnur zusammengebunden. «Mein Roman», fuhr er fort. «Die Sonntagszeitung will ihn als … Comic abdrucken. Aber mir gefällt der Zeichner nicht.»
    Erika nickte. Sie wartete, bis Dante seine nächsten Worte zusammengeklaubt hatte. «Mal mir einen … Superhelden!», sagte er, in demselben Ton, in dem die Kinder ihre Aufträge bestellten.
    Sie nahm kein neues, loses Blatt, sie zeichnete direkt mit den Filzstiften in ihr Schulheft. Sie zeichnete Dante, wie er auf dem Meditationskissen saß, dann ließ sie Strahlen aus seiner Glatze wachsen, machte sie zu einer Sonne. In der Mitte seines Mudras, zwischen seinen Handflächen und Daumen, war Platz für eine dunkelbraune Walnuss. Vielleicht war es auch etwas anderes. Erika zeichnete immer mehr Striche quer über die Seiten, immer mehr Strahlen und über die Strahlen angedeutete Szenen: ein Felssturz, von einer Hand aufgehalten, ein kleines Kind, in einer Kapuze geborgen, eine Lawine, von einem hungrigen Mund aufgeschleckt wie Eiscreme.
    Â«Heilige Sch… sorry … verdammt … das ist es. Das ist es genau!» Dante riss ihr das Heft weg. Der rosafarbene Filzstift, den Erika in der Hand hielt, fuhr über die Tischfläche hinaus. «So! Genau so hab ich mir das … vorgestellt.» Seine Stimme überschlug sich beinahe.
    Erika lächelte. Er ist ein Kind, dachte sie. Aber das machte nichts: Sie waren verbunden. Sie hatten sich gefunden. Anders, als sie es sich ausgemalt hatte. Nicht ihre Lippen küssten sich. Es war etwas anderes.
    Â«Also gut, hör zu. Ich nehm das … mit zu meiner Besprechung … Okay? Okay?» Er hielt Erikas Heft an seine Brust gedrückt, als fürchte er, sie wolle es zurückfordern. «Ich bestehe einfach darauf. Wir machen es zusammen oder gar nicht.» Je aufgeregter er war, desto weniger stockte er beim Sprechen.
    Â«Gut, gut!» Erika lachte. «Gut.» So einfach war das. Wenn man sich keine Mühe gab.
    Â«Dante, hast du die Zeit vergessen?» Eine dunkelhaarige Frau stand an ihrem Tisch. Sie schien müde. Dante schaute auf die Uhr.
    Â«Sorry, Mom.»
    Mom?, dachte Erika.
    Â«Mom, das ist … Erika, sie wird … meinen Comic zeichnen, sie ist richtig gut!»
    Â«Hallo», sagte Erika und streckte die Hand aus. Die andere Frau nahm sie nicht, nannte ihren Namen nicht, nickte nur knapp.
    Â«Das ist ja schön, aber wir kommen zu spät. Ich warte beim Auto», sagte sie und ging.
    Â«Tja …» Dante lächelte schief. «So ist das. Ich wohne … noch bei meiner Mutter.»
    Â«Aber deine Mutter ist doch …» Erika brach ab. Behindert, wollte sie sagen. Einmal hatte Dante eine Frau mit ins Zendo gebracht, sie saß im Rollstuhl. Erika war geübt darin, das Alter anderer Frauen zu schätzen. Vierzig, dachte sie. Oder älter. Sie hatte tiefe Kerben, die den Mund nach unten zogen, als hätte sie ständig Schmerzen. Dante hatte ihren Stuhl zu einem freien Platz zwischen zwei Kissen geschoben und ihr fürsorglich über die Beine

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