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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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allem.»
    Â«Ich dachte, nur bis die Ferien vorbei sind. Ich dachte, du seist weg.»
    Â«Und was, wenn ich wirklich nach Indien geflogen wäre? Was, wenn das Flugzeug abgestürzt wäre? Was, wenn ich in Indien krank geworden wäre? Wie hättest du irgendetwas erfahren?»
    Â«Es tut mir leid. Es war nicht meine Absicht, einfach so zu verschwinden. Ehrlich gesagt, dachte ich, du wärst ganz froh, mich los zu sein.»
    Â«Bin ich auch», sagte Suleika trotzig. «Aber du bist immer noch meine Mutter.»
    Â«Ja. Ich bin deine Mutter», sagte Erika langsam. «Und ich bin wirklich glücklich, dich zu sehen.»
    Â«Ja, das hab ich gemerkt.» Suleika grinste. «Kreiiiiisch!», machte sie Erika nach.
    Erika errötete. Ungeschickt streckte sie die Hand aus, um ihre Tochter zu berühren, die genau einen Zentimeter außerhalb ihrer Reichweite saß. Als hätte sie eine sichere Distanz zwischen ihnen automatisch abgeschätzt und eingehalten.
    Ein Schatten fiel auf ihre nackten Füße. Erika blickte auf. Eine hübsche junge Frau stand vor ihnen.
    Â«Hey», sagte sie, und zu Suleika gewandt: «Ich bin Stefanie. Dich hab ich hier noch nie gesehen.»
    Â«Weil ich noch nie hier war.»
    Die junge Frau ließ sich nicht abschrecken. «Ich bin auch nur in den Ferien hier.» Sie sank in sich zusammen wie eine Marionette am Ende einer Vorstellung und saß dann im Schneidersitz vor ihnen im Kies. Sie nickte Erika zu. «Ich heiße Stefanie Camenisch, ich bin die Stieftochter von Doktor Leibundgut. Ich helfe hier in den Ferien ein bisschen aus.»
    Â«Ah, ich erinnere mich.» Erika hatte ein Foto von der jungen Frau gesehen. Sieht aus wie zwanzig, ist aber erst fünfzehn, dachte sie. «Erika Keiner, ich bin erst vor kurzem eingezogen. Aber Frau Leibundgut habe ich bereits kennengelernt.»
    Â«Ja, man kommt nicht um sie herum.» Stefanie lachte.
    Erika fragte sich, ob das eine Anspielung auf den Körperumfang der Ärztin war, und wenn ja, wie Suleika darauf reagieren würde. «Und das ist meine Tochter Suleika», sagte sie schnell.
    Â«Die durchaus selber reden kann.»
    Â«Hör mal, Suleika, ich weiß ja nicht, ob dich das interessiert, aber wir haben hier so ein Ferienprogramm für Mädchen, das ist ziemlich cool. Jeden Morgen Yoga und dann so Gesprächsgruppen, und am Nachmittag müssen wir hier in der Siedlung aushelfen. Putzen und so.»
    Â«Klingt echt unwiderstehlich! Das ultimative Traumprogramm für die Ferien!»
    Stefanie lachte. «Ach, und dabei hab ich den Nachhilfeunterricht noch gar nicht erwähnt.»
    Â«Ich wohn gar nicht richtig hier.»
    Â«Na und? Ich auch nicht! Komm mit, heute säubern wir die Spielplätze, das ist voll der Ekel, die Sandkisten sind voller Hundescheiße!»
    Â«Hundescheiße aufsammeln! Bei der Hitze. Genau, was ich mir immer schon gewünscht habe.»
    Suleikas Sarkasmus prallte an Stefanie ab. Geschmeidig stand sie wieder auf und streckte eine Hand aus. «Na komm schon.»
    Erika erinnerte sich, dass sie zu Hause auf drei oder vier kleine Geschwister aufpasste, und lächelte. Schließlich nahm Suleika die Hand und ließ sich von ihrem Barhocker ziehen. Widerstrebend folgte sie Stefanie auf dem Kiesweg. Sie warf einen Blick zurück zu Erika, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Der Blick fragte Erika, ob sie einverstanden sei. Der Blick eines Kindes, das ihr vertraute.

Nevada
1.
    Â«Was ist denn mit Ihnen los?», fragte Elma, als sie Nevada am Bahnhof abholte. Zum letzten Mal, denn am Wochenende würde Nevada hierherziehen. In dieselbe Siedlung, in der auch Dante wohnte. Hundertmal hätten sie sich in den letzten Wochen zufällig über den Weg laufen können. Auf dem Weg zur Turnhalle, zum Bahnhof, im Café Migräne.
    Es gibt keine Zufälle, dachte Nevada. «Ich bin verliebt», sagte sie und grinste. Sie wusste nicht, wann sich ihre Mundwinkel zum letzten Mal gesenkt hatten. Das Gewicht der feuchten Wolldecke war von ihr abgefallen. Der Himmel war blau, das Sonnenlicht vergoldete den Kies auf dem Weg, die verdorrten Grashalme am Wegrand. In ihrem Kopf lief in einer Endlosschlaufe der Film: Dante und Nevada. Die wichtigen Szenen. Und die unwichtigen. Was er gesagt, was sie geantwortet hatte. Die erste Berührung, der erste Kuss. Jeder einzelne Blick.
    Immer wieder erzählten sie sich gegenseitig, was sie gefühlt,

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