Das wahre Leben
gestrichen. Die Geste hatte Erika gerührt. Jetzt irritierte sie sie.Wenn diese Frau nicht Dantes Mutter war, wer war sie dann?
Dante wartete nicht, bis sie ihren Satz beendete. Er stand auf, hängte sich seine Tasche um. Den Papierstapel lieà er auf dem Tisch liegen. «Kannst ja schon ⦠mal anfangen ⦠zu lesen!»
Erika zog den Packen zu sich, er war schwer.
«C-Force oder Das K-Wort» , stand auf dem Deckblatt.
«Was ist das K-Wort?»
Dante legte den Kopf schief.
Erika verstand. Krebs. Das Wort, das man ungern ausspricht.
Â
2.
Ein schwarzer Abfallsack lag vor ihrer Tür. Als sie näher kam, richtete er sich auf.
«Mann, wo warst du denn?»
Suleika.
Erika war auf ihre eigene Reaktion nicht gefasst: Sie riss ihre Arme weit auf, lieà ihre Tasche fallen, ihre Stifte kullerten über den Boden. Sie stieà einen schrillen Schrei aus, der sie selber erschreckte. Sie hatte nicht gewusst, dass sie solche Laute in sich hatte. Es klang, als sei etwas in ihr gerissen. Und so fühlte es sich auch an.
Suleika wich erschrocken zurück, doch Erika packte sie und zog sie an sich. Sie legte ihre Arme um den weichen Körper, so weit sie eben reichten. Nicht ganz um ihre Tochter herum. Sie hielt sich an den warmen, etwas feuchten Schultern fest und vergrub ihre Nase in dem rosarot gestreiften Haar, das schwach nach Rauch roch. So hatte sie ihre Tochter nicht mehr umarmt, seit sie so dick geworden war.
Hatte Suleika das Fleisch mit Absicht zwischen sie gelegt? Erika lieà ihre Arme sinken.
Suleika trat einen Schritt zurück. «Mann, du bist peinlich!»
«Und wenn schon! Kennt dich hier irgendjemand?»
«Nein, aber dich!»
Erika zuckte mit den Schultern. Sie schloss die Tür auf, und erst da bemerkte sie, dass Suleika tatsächlich einen schwarzen Abfallsack dabeihatte. Er war beinahe so groà wie sie und voller Kleider.
Suleika fing Erikas Blick auf. «Hast du ein Problem? Ich bleibe mal ein bisschen hier. Bis die Schule beginnt.»
«Aber Suleika! Was ist mit Indien? Mit Max?»
«Musst nur sagen, wenn es dir nicht passt.»
«Natürlich passt es mir! Ich frage doch nur, was aus der Indienreise geworden ist.»
Suleika antwortete nicht. Sie lieà den Sack mitten im Raum liegen, schlurfte in die Wohnung und schaute sich alles sehr genau an. Sie sah, dass sich das Sofa nicht zum Bett ausklappen lieà und dass es keinen Fernseher gab. Auf der Küchentheke stand eine neue Kaffeemaschine. Suleika öffnete den Kühlschrank und suchte etwas zu essen. Doch der Kühlschrank war leer bis auf ein paar Packungen mit vorgekochten japanischen Nudeln und vorgeschnittenem Gemüse.
«Ist das dein Ernst?»
«Warum nicht? Das ist sehr praktisch. Und sehr gesund! Schau, sogar die Sojasauce ist schon dabei, man muss es nur aufwärmen. Soll ich dir eine Portion machen?»
«Bitte nicht.» Suleika öffnete das Tiefkühlfach und fand dort ihr Lieblingseis. Ben & Jerryâs, Cookie Dough. Als hätte Erika nur auf sie gewartet. Vielleicht hatte sie das ja. Warum sonst hätte sie das Eis gekauft? Suleika nahm einen Löffel aus einer Schublade und aà das Eis direkt aus der Packung.
«Früher hattest du immer nur Wodka da drin», sagte sie.
«Ich trinke halt nicht mehr so viel», sagte Erika. Sie hatte nicht gewusst, dass Suleika ihre Gewohnheiten beobachtet hatte. Nach dem ersten Einkauf hatte sie keinen Alkohol mehr besorgt. Den Wodka hatte sie in vier Tagen getrunken, die erste Flasche WeiÃwein am ersten Abend. Die zweite stand immer noch ungeöffnet im Kühlschrank. Erika wusste nicht genau, was passiert war. Der Wein schmeckte ihr nicht mehr, nach Wodka verlangte es sie nicht mehr. «Und die Tabletten sind mir auch fast alle ausgegangen.» Warum sollte sie Tabletten nehmen, um besser zu funktionieren, wenn sie gar nicht funktionieren musste? Sie ging voraus ins Bad und öffnete den Spiegelschrank.
«Schau», sagte sie stolz und zeigte die halbleeren Regalfächer, zog Schubladen auf.
«Und wo ist all dein anderes Zeug?»
«Du meinst Kosmetika? Was brauch ich die hier â¦Â»
«Hier leben doch auch Menschen», sagte Suleika.
Erika schwieg verwirrt. Was wollte Suleika damit sagen? Dass Erika ungeschminkt und ungepflegt für jede Umgebung eine Zumutung war? Und Suleika? War sie etwa keine Zumutung? Schon stieg die alte Wut wieder in ihr hoch. Sie hatte sie seit
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