Das wahre Leben
gedacht, gehofft hatten in jedem einzelnen Augenblick. Sie hielten sich aneinander fest, sie konnten nicht genug voneinander bekommen. So hatte Nevada sich noch nie gefühlt. Nicht mit vierzehn. Nicht mit vierundzwanzig.
«Ach so.» Elma schien enttäuscht.
Die Lehrerin in Nevada hörte das und wollte auf die Schülerin eingehen. Die verliebte Frau war stärker. «Und stell dir vor, er lebt hier in der Siedlung! Ich hab euch doch erzählt, dass ich am Wochenende hierherziehe, nicht? Und jetzt stellt sich heraus, dass Dante auch hier lebt. Ist das nicht Wahnsinn?»
«Dante?», fragte Elma. «Sie meinen Glatzen-Dante? In den haben Sie sich verliebt?»
«Er hat Krebs», murmelte Nevada. «Darum die Glatze.»
«Weià ich. Weià doch jeder hier. Der war mal in der Zeitung. Der ist berühmt. Sie, ist der nicht zu jung für Sie?»
«Elma, die Liebe kennt kein Alter â¦Â»
Die letzten sechsunddreiÃig Stunden hatten sie in Nevadas kleinem Zimmer verbracht, in ihrem Bett. Noch nie hatte Nevada einen ganzen Tag verstreichen lassen, ohne sich zu etwas zu zwingen. Ohne ihren Pflichten nachzukommen. Ohne ihren Körper irgendwie herauszufordern, ohne zu arbeiten. Nie war sie aufgewacht, ohne sich im Kopf zurechtzulegen, was sie als Nächstes tun würde und als Ãbernächstes. Nie hatte sie sich so fallen lassen.
Nevada hatte sich dabei immer eingeredet, die Zeit, die sie täglich mit Ãben verbrachte, sei ihre Zeit. Sie hatte nicht gemerkt, wie angestrengt sie den Atem angehalten hatte. Immer in der Erwartung der nächsten Prüfung. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass alles, was sie tat, harte Arbeit gewesen war. Sogar das Sitzen, das Atmen. Zum ersten Mal entspannte sie sich wirklich. Zum ersten Mal atmete Nevada ganz aus. Sie lieà alle Luft aus sich herausströmen und wusste, dass der nächste Atemzug ganz von allein kommen würde. Dass sie nichts dafür tun musste.
Es gab nur noch Dantes Lippen, seine Hände, seine Haut. Bis das Telefon klingelte. Annabelle. Dantes Mutter war auÃer sich, das konnte Nevada hören, obwohl Dante sich zum Telefonieren abwandte.
Woher hätte seine Mutter wissen sollen, dass er bei Nevada war? Wer war überhaupt Nevada? Konnte Dante sich nicht denken, dass seine Mutter vor Sorgen ganz verrückt wurde? Jederzeit konnte der Tumor einen epileptischen Anfall auslösen. Wenn er gerade die StraÃe überquerte, in einen Zug steigen, die Treppe hinuntergehen wollte. In sechsunddreiÃig Stunden konnte Dante tausendmal sterben.
Elma deutete ein Würgegeräusch an. «Ich werde mich nie verlieben. Können Sie vergessen. Das bringt doch nichts. Schauen Sie sich mal um, Frau Nevada. Ãberall Probleme!»
«Aber bei uns â¦Â» ⦠ist es etwas anderes, wollte Nevada sagen. Wie oft hatte sie diesen Satz selber schon gehört? Ihre Schülerinnen, früher im Yogastudio und erst recht jetzt in ihren Privatstunden, erzählten ihr die intimsten Einzelheiten aus ihrem Leben. Und sahen sie dann erwartungsvoll an. Als wüsste Nevada mehr über die Liebe als sie, nur weil sie achthundertundvier Asanas ausführen und das Yoga Sutra in Sanskrit rezitieren konnte.
Nevada sah durchaus die Auswirkungen der Liebe. Bei den jungen Yogaprinzessinnen im schicken Studio und den mittelalterlichen Hausfrauen in ihren Einzelstunden. Bei den schwierigen Mädchen genau wie bei den Managerinnen, die für die Dauer der Mittagspause Nevada ins Büro bestellten. Bei Rebeccas Mutter, die einem Mann, den sie eben erst kennengelernt hatte, ins Welschland gefolgt war. Ihre Töchter, die beide noch zur Schule gingen, hatte sie zurückgelassen. Ein paar Wochen vergingen, dann kam die Frau des Welschen aus der Kur zurück. Er war gar nicht geschieden, hatte nur einen Ersatz gesucht für seine Ehefrau, für die paar Monate, in denen sie ausfallen würde. Im Geschäft und zu Hause. Ohne sich lange aufzuhalten, schickte er Rebeccas Mutter weg. Sie hatte nichts mehr. Sie versteckte sich im Keller, bis alle schliefen, dann zündete sie das Haus an. Der Mann erlitt schwere Verbrennungen, seine Frau konnte fliehen. Rebeccas Mutter hatte von der StraÃe aus zugeschaut. Sie lieà sich widerstandslos festnehmen. Seither wurde sie in einer psychiatrischen Klinik verwahrt.
«Ich weià schon, was du meinst», sagte Nevada jetzt zu Elma, die sie über den holperigen Kiesweg schob.
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