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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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nicht, dass er sich später einmal schämt, weil er uns im Stich gelassen hat. Ich entließ ihn in sein eigenes Leben. Drei Monate später war er verheiratet.» Dante mit Glatze. Dante umringt von anderen Kindern mit Glatze. «Ich wäre gern umgezogen, es brach mir das Herz, Nando jeden Tag zu begegnen, seiner Frau, seinen Kindern, eins, zwei, drei Kinder, und alle gesund. Aber ich konnte mir nichts anderes leisten. Die Karriere, die ich machen wollte, habe ich nicht gemacht. Zu häufig abwesend, nicht nur physisch. Es interessierte mich nicht mehr, Versicherungen zu verkaufen. Ich wusste ja: Es gibt keine Sicherheit.» Dante als junger Mann, ein Mädchen im Arm. «Das war die letzte Remission. Die hat richtig lange angehalten. Fast vier Jahre. Lange genug, um sich sicher zu fühlen. Er hat die Matura gemacht, angefangen zu studieren, Publizistik, er hat seinen Roman beendet.» Dante mit drei anderen jungen Männern, leere Bananenschachteln über den Kopf stemmend. «Er ist in eine WG gezogen, er hatte eine Freundin, Nina, ein nettes Mädchen, Jurastudentin, ich mochte sie. Ich zog selber auch um, in diese Wohnung hier. Endlich, zum ersten Mal in all den Jahren konnte ich aufatmen. Ich musste Nando nicht mehr begegnen, musste sein Glück nicht mehr ertragen. Und genau dann rief er mich an. Genau in dieser Woche. Er habe mich nie vergessen, seine Ehe sei ein Betrug, eine Täuschung von Anfang an. Er liebe nur mich. Er verließ seine Frau und zog zu mir. Hier, in diese Wohnung.» Annabelle schaute von den Fotos auf und schaute sich in der Wohnung um, als erwarte sie, Nando jeden Moment aus der Küche kommen zu sehen. Aber in diesen Wänden war kein Platz mehr für einen Mann. «Jetzt bin ich auch mal dran, dachte ich. Ich schämte mich nicht. Ich dachte nicht an seine Frau, nicht an seine drei Kinder, nicht an ihren Schmerz. Ich dachte nur an mich. Dante fuhr mit seiner Freundin in die Ferien. Sie waren irgendwo in den Bergen, in einer Alphütte, weit weg von Ärzten und Spitälern, als die Kopfschmerzen begannen und er plötzlich ihren Namen nicht mehr aussprechen konnte. Sie nahm das persönlich. Sie warf ihm vor, er liebe sie nicht wirklich. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass das ein Symptom sein könnte. Vielleicht verständlich, sie hatte ja nicht mit der Krankheit gelebt. Wütend fuhr sie ins Tal hinunter und ließ ihn oben zurück. Allein. Es dauerte drei Tage, bis er von den nächsten Mietern gefunden wurde.» Annabelle blätterte weiter, durch die restlichen Seiten, die leer waren. Sie klappte das Album zu. «In der WG waren sie überfordert. Nina sprach nicht einmal mehr mit ihm, vielleicht war es einfacher so. Für sie. Als Dante wieder vor meiner Tür stand, wusste ich, was als Nächstes passieren würde. Und so war es auch. Nando verließ mich. Er machte Platz. Wir mussten nicht einmal darüber reden. Soviel ich weiß, hat seine Frau ihn zurückgenommen.»
    Nevada nahm Annabelle das Album aus der Hand und drückte es an ihre Brust. «Aber Annabelle! Jetzt ist er doch bei mir! Jetzt sind Sie wieder frei, Annabelle, sehen Sie das nicht?»
    Annabelle antwortete nicht. Sie holte aus und schlug Nevada mit der flachen Hand ins Gesicht. Das Album rutschte aus ihren erstarrten Händen, knallte auf den Tisch, ein verschnörkelter Kerzenständer aus Porzellan fiel um und zerbrach. Annabelle hielt sich eine Hand vor den Mund, Nevada fasste sich an die Backe. So starrten sie sich einen Augenblick lang schweigend an. Dann streckte Annabelle ihre Hand nach Nevada aus. «Um Gottes willen», flüsterte sie. «Was tue ich da? Was ist mit mir los? Ich habe eine Behinderte geschlagen.»
    Nevada musste lachen. Sie nahm Annabelles Hand und drückte sie fest. «Ja, hast du», sagte sie. «Danke dafür!»

Erika
1.
    Als es am Nachmittag etwas abkühlte, kurbelte Erika den Rollladen in ihrem Schlafzimmer hoch, und da stand Gerda. Gerda mit ihrem schwarzen Zeltkleid und den wilden grauen Haaren und der kreisrunden rotgerahmten Brille. Den knallroten Lippen. Sie stand auf dem Weg, der zu Erikas Haustür führte und legte den Kopf in den Nacken.
    Â«Hm», sagte sie. «Hm, ja, das kann man machen.»
    Man kann nicht einfach so verschwinden, dachte Erika. Nicht in diesem Land, nicht in dieser Zeit. Nicht einmal im Sommer.
    Â«He!», rief Erika aus dem Fenster. Gerda zuckte zusammen. Dann

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