Das wahre Leben
â¦Â»
«Ja, eben: gejammert hast du, aber getan hast du nichts.» Gerda nippte vorsichtig an ihrem Kaffee. «Du, der ist gar nicht schlecht. Sind die Kapseln biologisch abbaubar?»
«Keine Ahnung.» Erika nahm eine aus der Küchenschublade und reichte sie Gerda zur Inspektion.
«Wär ich nie drauf gekommen. So was zu kaufen.»
«Ich auch nicht», sagte Erika. «Aber seit ich hier lebe, weiÃt du, entdecke ich eine vollkommen neue Welt. Eine, von der ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Irgendwie habe ich immer geglaubt, wie wir leben, müsse man leben. Eigentlich bescheuert, findest du nicht?»
«Was meinst du mit â¹wirâº? Du und ich, wir leben nicht dasselbe Leben!»
«Nein, natürlich nicht, aber irgendwie doch. Du und ich und die Kreise, in denen wir uns bewegen. Warst du schon mal bei Aldi oder Lidl? Meinst du, Susanne würde Kaffee trinken, der nicht originalverpackt ist? Das, was wir für normal halten oder auch für wichtig, Gerda â das gilt irgendwie nur für uns. Wir sind nicht alle. Wir sind nicht mal viele. Wir sind irgendwie nicht mal maÃgeblich.»
«Wenn du nicht immer â¹irgendwie⺠sagen würdest, wäre das ein beinahe interessanter Gedanke!»
Erika lachte. «Du bist schon ein böses Weib.» Das war ihr einfach so herausgerutscht. Zu ihrem groÃen Schrecken traten Gerda Tränen in die Augen. Ach! Austeilen konnte sie, aber einstecken nicht? Erika fühlte eine Art Ãberlegenheit, die sie übermütig machte. Sie war, das wurde ihr in diesem Moment bewusst, nicht mehr darauf angewiesen, dass Gerda sie akzeptierte oder gar mochte. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie selber Gerda mochte. Es interessierte sie, wenn sie ehrlich war, nicht einmal mehr. Im nächsten Augenblick erfüllte sie wieder Sorge um ihre Freundin und das schlechte Gewissen, sie verletzt zu haben.
«Ich habe es doch nicht so gemeint, Gerda», sagte sie. «Es war nur ein Scherz. Es tut mir leid.» Während sie sich entschuldigte, spürte sie, wie sich das übermütige Gefühl auflöste, sie spürte, wie sie wieder die Schultern hochhob, den Kopf einzog.
«Mach nicht wieder die Schildkröte!», hatte ihre Mutter sie angeherrscht, ohne zu merken, dass sie selbst diese Haltung hervorrief. Erika stand auf, ging um die Küchentheke herum, stellte sich neben Gerda und legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter. Gerda griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Sie presste Erikas Finger zusammen, bis sie schmerzten. Dann lieà sie los und drehte sich um. «Setz dich wieder hin», sagte sie. «Wir müssen richtig miteinander reden.»
«Also gut.» Folgsam setzte sich Erika wieder auf ihren Hocker und wartete.
«Du hast dich verändert», sagte Gerda. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und zog die Nase hoch. Ihr Lippenstift war verschmiert. Sie ist alt geworden, dachte Erika. Sie sieht müde aus. Gerda atmete tief ein, und Erika beobachtete, wie sich das Gesicht vor ihren Augen wieder festigte. Mit reiner Willenskraft arrangierte Gerda ihre entgleisten Gesichtszüge wieder zu einem ansprechenden Ganzen.
«Vielleicht hab ich dir unrecht getan. Ich dachte immer, wer sich so wenig einsetzt, hat auch nicht mehr verdient als ein halbgares, unbefriedigendes, unbedeutendes Leben.»
«Gerda, was soll das jetzt wieder?»
«Lass mich ausreden. Vielleicht hatte ich deshalb nie Skrupel dir gegenüber. Weil ich dich nicht ernst genommen habe. All die Jahre, in denen du dich über Max beklagt hast. Und wie er dich behandelt hat â und trotzdem bist du ihm nachgelaufen wie ein Hündchen, das für die kleinste Liebkosung dankbar ist, für das geringste gute Wort. Wie sollte ich dich respektieren?»
Warum hast du mir das nie gesagt?, wollte Erika fragen, doch Gerda redete schon weiter.
«Und jetzt hast du endlich gehandelt. Du bist ausgezogen. Das macht mir Eindruck. Oder, besser gesagt, es würde mir Eindruck machen, wenn ich es nicht besser wüsste.»
«Das hast du vorhin schon gesagt», unterbrach Erika. «Was meinst du damit? Was weiÃt du denn besser als ich?»
«Dass du es nicht ernst meinst! Schau dich doch um: Jeder kann auf den ersten Blick sehen, dass du nicht hierhergehörst. Das ist nicht deine Welt. Du hast einfach die erstbeste freie Wohnung genommen, um Max eins reinzubrennen. Um ihm zu zeigen: So
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