Das wahre Leben
ging sie mit schnellen Schritten auf sie zu.
«Hier versteckst du dich also!», rief sie. «Das ist ja mal was anderes. Hätte ich dir irgendwie nicht zugetraut. Ehrlich. Wenn ich es nicht besser wüsste, wäre ich beeindruckt.»
Ãber solche Sätze konnte Erika eine halbe Nacht lang nachdenken. Sie wälzte sie in ihrem Kopf hin und her und versuchte, die in der Aussage versteckte Botschaft zu finden. Wollte Gerda sie beleidigen? Machte sie sich über sie lustig? War sie überhaupt ihre Freundin? Mochte Gerda sie überhaupt? Oder verachtete sie Erika insgeheim? Früher hatte sie manchmal Max gefragt, was er meine.
«Gerda ist ein Snob», sagte Max dann. «Für sie zählt in erster Linie die Leistung, darum fragt sie die Leute immer als Erstes, was sie beruflich machen. Jemand, der nichts macht, interessiert sie nicht. Nimm das nicht persönlich.»
Daraufhin lag Erika wach und drehte und wendete diese Erklärung im Kopf. Wollte er sie beleidigen? Ihr eigener Mann? Mochte er sie überhaupt? Oder verachtete er sie heimlich?
Doch jetzt konnte Gerda sie nicht mehr einschüchtern, und so fragte Erika einfach: «Wie meinst du das? Was weiÃt du besser?»
«Ach, nun sei nicht immer so empfindlich.» Gerda setzte sich auf das Fensterbrett und schwang ihre Beine überraschend wendig in Erikas Schlafzimmer hinein. Erika musste zurückweichen, um nicht von Gerdas klobigen Stiefeln getreten zu werden. Gerda trug auch im Sommer Kampfstiefel mit Metallkappen unter ihren Zeltkleidern. Ganz selten hatte Erika sie in hochhackigen Schuhen gesehen. Sie waren aus goldenem Leder oder aus rotem Samt, nur die Spitzen schauten unter ihrem langen Kleid hervor. Diese unverhofft aufblitzenden Schuhspitzen zogen mehr Blicke auf sich als die nackten Beine der jüngeren Frauen. In ihrer kompromisslosen Hässlichkeit war Gerda überaus anziehend. Erika wusste nicht, ob Gerda das wusste. Oder ob es ihr etwas bedeutete. Früher hatten sie manchmal über ihre Beziehungen gesprochen, über ihre Liebhaber, ihre Dramen. Ihre Generation hatte den Anspruch gehabt, die Liebe neu zu erfinden. Ohne Besitzansprüche, ohne Regeln. In Freiheit. Man konnte nicht sagen, dass es ihr gelungen war.
«Was tust du hier?», fragte Erika.
Gerda schaute sich im Schlafzimmer um. Erika hatte das Bett nicht gemacht. Ein Haufen Kleider lag auf der dünnen Decke. Auf Suleikas Seite stand ein leerer Eisbecher, auf ihrer, beim Fenster, ein Aschenbecher mit zwei Kippen. Ein Glas Wasser. Erika wusste, was Gerda dachte. Kein Wodka. Seit Suleika da war, schlief Erika plötzlich viel besser unter ihrem Sternenhimmel, der jetzt von Gerda kritisch betrachtet wurde.
«Also, der müsste natürlich runter», sagte sie. «Ich meine, wenn du tatsächlich hierbleiben wolltest.»
«Ich wohne doch jetzt hier.» Erika ging an Gerda vorbei, um sie in die Essküche zu lotsen. Doch Gerda hatte gerade die Schranktür geöffnet und zeigte auf die leeren Fächer und Regale, die baumelnden Kleiderbügel.
«Siehst du, Erika? Du hast gar nichts mitgenommen. Das meine ich mit â¹ich weià es besserâº!»
Erika machte den Schrank wieder zu. «Möchtest du einen Kaffee?», fragte sie.
«Wenn du einen hast.»
Erika lieà Gerda an sich vorbei und schloss die Schlafzimmertür hinter sich. Sie konnte Gerda nicht erklären, was dieses Zimmer für sie bedeutete. Wie geborgen sie sich unter den matt leuchtenden Sternen fühlte. Wie gern sie ins Bett ging. Sie freute sich richtig darauf, abends in ihr Zimmer zu gehen, ein Buch aus dem Regal zu nehmen, beim Lesen einzuschlafen, unter der schwach leuchtenden Nachttischlampe wieder aufzuwachen, ein bisschen zu lesen, mit dem aufgeschlagenen Buch in der Hand wieder einzuschlafen. Wie hatte sie sich früher vor den Nächten gefürchtet!
Jetzt, da Suleika neben ihr lag, dieser mächtige weiche Körper, der die ganze dünne Decke um sich schlang, konnte Erika zum ersten Mal in ihrem Leben ruhig schlafen, ohne Tabletten und ohne Alkohol. Suleikas leises Schnarchen schaukelte das Bett und wiegte sie in den Schlaf. Und wenn Erika mitten in der Nacht erwachte, lag sie oft an ihre Tochter geschmiegt, oder zumindest lag einer ihrer Arme auf dem massigen Leib.
Die ersten viereinhalb Jahre ihres Lebens hatte Suleika keine Nacht durchgeschlafen. Die Schlaflosigkeit hatte für Erika keinen Schrecken, so lange
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