Das wahre Leben
sie ihr nicht ausgeliefert war. Doch als ihr Schlaf, dieser ohnehin schon dünne Schleier immer wieder jäh zerrissen wurde, verbot Erika sich, überhaupt einzuschlafen.
Später hatte sie sich vor der Leere in ihrem Bett gefürchtet, wenn Max nicht da war, und vor seiner Kälte, wenn er da war. Das abendliche Zubettgehen wurde zu einem Lauf durch ein Minenfeld. Sie beobachtete ihren Mann den ganzen Abend lang: Würde er noch ins Glarnerland fahren, würde er hierbleiben, wie war seine Stimmung, wenn er blieb, schaltete er noch den Fernseher ein, spielte er mit seinem Handy, später seinem iPad, ging er unter die Dusche? Würde sie den richtigen Moment erwischen, hatte sie eine Chance, von ihm berührt zu werden, würde er ihre Berührungen annehmen, auf sie eingehen oder sie zurückweisen? Sie hörte von Frauen, die ihre Männer ebenso beobachteten, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Sie versuchten um jeden Preis, die Berührungen zu verhindern, nach denen Erika sich sehnte. Sie hörte ihren Freundinnen zu und erkannte in ihren Berichten Maxâ Strategien.
«Ich schlieÃe mich einfach im Bad ein und warte, bis ich ihn schnarchen höre.»
«Ich huste den ganzen Abend schon mal vorbeugend und packe mich dann vor dem Schlafengehen richtig dick ein, Pyjama und Wolljacke und dicke Socken, aber es nützt nichts, er kämpft sich durch alles hindurch!»
«Da trag ich eine extra glänzende, fette Gesichtsmaske auf und â¦Â»
Letzteres tat Max zwar nicht, aber er steckte sich eine Plastikklemme auf die Nase, um sein Schnarchen zu bekämpfen. Die Klammer hielt ihn zwar vom Schnarchen nicht ab, aber sie zeigte Erika deutlich, dass er keinesfalls geküsst werden wollte. Und wenn eines Abends keine Barrikaden zwischen ihnen aufgebaut waren, dann schrie Suleika sich die Seele aus dem Leib. Die Schlaflosigkeit, die in ihrer Kindheit ein Luxus und in ihrer arbeitsreichen Jugend ein Zeichen von Ãberlegenheit gewesen war, entwickelte sich während ihrer Ehe zu einem Fluch. Ihre einzige Erlösung, ein starkes Medikament, war gleichzeitig ihre schlimmste Strafe: Unter seinem Einfluss war sie endgültig allein. Sie spürte ihren Mann nicht, sie hörte ihr Baby nicht mehr.
Doch jetzt schloss sich der Kreis, und Erika schlief an der Seite ihres groÃen Kindes. Das würde sie Gerda nie erklären können.
Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, die sie im Supermarkt gekauft hatte.
«Das ist aber keine echte», kommentierte Gerda. «Kannst du wenigstens die Originalkapseln verwenden?»
«Kann ich, aber die gibt es hier nicht.»
Erika drückte zweimal den Knopf mit der Espressotasse, sie stellte keine Milch auf die Küchentheke und bot keinen Zucker an.
«Ich dachte, du seist in Indien?» Erika machte Konversation. Die Fähigkeit dazu lieà sich offenbar nicht verlernen. Wie Radfahren. Oder war es Sex? «Baust du nun das Olympiastadion in Delhi oder nicht?»
«Erika â¦Â»
Erika stand noch einmal auf und holte eine angebrochene Tafel Schokolade aus dem Küchenschrank. Sie legte sie zwischen sich und Gerda auf die Theke, ohne sie auszupacken, auseinanderzubrechen, irgendwie zu arrangieren.
«Ich hätte auch was mitbringen können», sagte Gerda. «Hast du einen Schluck Milch?»
«Nein.»
«Ich seh schon.» Gerda lächelte, dann schüttelte sie den Kopf. «Wie gesagt, ich hätte es dir nicht zugetraut. Dass du so einen Schritt wagst. Ich finde es gut, und das meine ich so, wie ich es sage. Ich finde es gut, dass du endlich was unternimmst.»
«Danke.» Erika brach ein Stück Schokolade ab und steckte es in den Mund. Je weniger Alkohol sie trank, desto mehr SüÃigkeiten aà sie.
«WeiÃt du, jemand, der alles hinnimmt, erntet keinen Respekt.»
Da war sie wieder, die versteckte Beleidigung. Eigentlich war sie gar nicht so versteckt. Warum lieà Erika sich das bieten? Das hatte sie sich noch gar nie gefragt. Sie hatte es einfach hingenommen. So wie sie die ständige Kritik ihrer Mutter hingenommen hatte. Ihre Mutter war tot, aber ihre beste Freundin füllte ihren Platz: die Frauenstimme, die Erika unablässig kritisierte.
«Ich wollte früher schon gehen», sagte Erika lahm. «Ich wollte schon ein paarmal gehen, das weiÃt du doch. Ich hab dir weià Gott oft genug vorgejammert, wie unglücklich ich sei, wie allein ich mich fühle
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