Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
Vom Netzwerk:
beinahe aufgegessen.
    Dijana lächelte zufrieden. Doch dann fiel ihr etwas ein. Sie runzelte die Stirn. «Frau Nevada?», fragte sie. «Aber, Frau Nevada, was ist mit der Elefantenmutter? Ist sie nicht traurig?»
    Â 
3.
    Â«Sie wissen, dass er ein Buch geschrieben hat?»
    Nevada schüttelte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass Dantes Mutter sie nicht mochte. Annabelle Baumeister hatte sie allein treffen wollen. Ohne Dante. Nevada hatte gehofft, sie würde ihr überschäumendes Glück mit ihr teilen. Was sie aber nicht tat. Was die wenigsten taten. Dieses seltene Glück, diese Liebe, die sie im letzten Moment noch gefunden hatte, wurde von niemandem gefeiert. Es löste Befremden aus. Es war, als hätten Nevada und Dante ein Gesetz gebrochen, von dem sie nichts gewusst hatten.
    Annabelle Baumeister war nur zehn Jahre älter als Nevada. Und wenn Nevada ehrlich war, sah man ihr diese zehn Jahre nicht an. Nichts macht so alt wie gelähmte Beine, dachte Nevada bitter. Nichts macht so geschlechtslos wie ein Rollstuhl. Die Wohnung, in der Annabelle und Dante lebten, war größer als die von Nevada, aber sie wirkte kleiner, weil sie so vollgestellt war.
    Nevada besaß fast nichts. Ein paar Kleider, Bücher, Heiligenstatuen, Kerzen. Ein Bett. In zwei Stunden war sie umgezogen. Sie hatte nicht einmal einen Lieferwagen mieten müssen. Sierra hatte ihr Bettwäsche, Handtücher und Geschirr geschenkt, alles in den sanften Braun- und Goldtönen der Gesundheitsoase. Nevada konnte mit ihrem Rollstuhl im leeren Wohnzimmer Pirouetten drehen. Die Wohnung war zwar rollstuhlgängig, verfügte über Haltegriffe in der Badewanne und neben der Toilette, aber nicht behindertengerecht. Die Küchenschränke konnte Nevada vom Rollstuhl aus nicht erreichen, an der Küchentheke konnte sie nicht sitzen. Sierra hatte ihr einen kleinen, mit Goldfarbe bemalten Tisch gebracht, den sie ans Fenster stellte, und eine lederne Reitgerte, mit der sie gegen die Schranktüren drückte, bis sie aufsprangen.
    Â«Und jetzt?», hatte Nevada gefragt. Sie musste sich gegen die Theke stemmen, aus dem Stuhl ziehen, eine Hand loslassen, nach dem Teller oder der Cornflakes-Schachtel greifen, sich dann vorsichtig wieder in den Stuhl zurücksinken lassen, die Reitgerte heben und die Schranktür wieder zudrücken. Nicht zu heftig, sonst würde sie gleich wieder aufspringen. Es war einfacher, alles offen auf der Arbeitsfläche und der Theke stehen zu lassen.
    Oder sich von Dante helfen zu lassen. Dante wickelte sie in den meterlangen, braungoldenen Vorhangstoff, den Sierra mitgebracht hatte. Er rollte sie über den ganzen Fußboden und wickelte sie wieder aus. Fröhlich ruinierten sie den Vorhangstoff. Die Fenster blieben unverdeckt.
    In Annabelles Wohnung gab es hingegen überall Sitzgelegenheiten und keinen Platz für einen Rollstuhl. Porzellanfigürchen auf zierlichen Beistelltischen und gläsernen Regalen zitterten und klirrten bei der leisesten Erschütterung. Ein Vogel zwitscherte in seinem Käfig. Es war beinahe unmöglich, mit dem Rollstuhl an allen Hindernissen vorbeizuzirkeln. Und Annabelle half ihr nicht. Sie bot ihr auch nichts zu trinken an. Kerzengerade saß sie auf der Sofakante, die Sonne im Rücken. Ein Heiligenschein bildete sich um ihre dunkle Hochsteckfrisur, ihr Gesicht lag im Dunkeln. Die Madonna ohne Kind.
    Â«Was wissen Sie denn überhaupt über ihn?»
    Â«Können wir uns nicht duzen?»
    Â«Nein», sagte Annabelle. «Einfach nein.»
    Â«Ich weiß, dass ich ihn liebe», sagte Nevada. «Ich weiß, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie so glücklich gewesen bin. Es ist, als hätte er einen Schleier weggerissen, der zwischen mir und dem Leben hing. Plötzlich ist alles klar und leuchtend und bunt und schön.»
    Â«Gut für Sie. Und was hat er davon?»
    Â«Dante liebt mich. Das hat er Ihnen doch gesagt.»
    Â«Mein Sohn ist schwer krank. Seit seiner Kindheit. Der Krebs kommt immer wieder zurück, immer an einem anderen Ort. Es gibt bald keinen Teil seines Körpers mehr, der noch nicht befallen war. Von dem nicht Teile fehlen, herausgeschnitten, verbrannt worden sind. Aber dieser neue Tumor in seinem Hirn ist nicht operabel.»
    Â«Ja, das ist mir klar.»
    Â«Der Tumor drückt ihm aufs Gehirn. Er tut Dinge … er sagt Dinge, die er sonst nicht sagen würde. Ich würde das also nicht so

Weitere Kostenlose Bücher