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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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hingegen schien wie in eine Daunendecke gepackt. Sie versteckte sich.
    Nevada ließ die Mädchen an der Wand Viparita Kirani üben. Nebeneinander lagen sie auf dem Rücken, in sicheren Abständen, und streckten ihre Beine im rechten Winkel nach oben an der Wand entlang aus. Nevada rollte leise an ihnen vorbei, und beschwerte jedes Paar Fußsohlen mit einem kleinen Sandsack. Suleika hatte hübsche Füße, das fiel ihr auf. Rebeccas Fußsohlen schälten sich. Deniz’ Beine zitterten. Elma zuckte unter ihrer Berührung zusammen und funkelte sie unter zusammengezogenen Brauen an.
    Â«Schließt die Augen. Atmet ein – Ham – aus – Sa. Ham … Sa … Ham … Sa … Ich bin die, ich bin die, ich bin die, ich bin die, ich bin …»
    Eine Stunde täglich sollte man so liegen, hatte Nevadas indischer Lehrer empfohlen. Eine Stunde, um die restlichen dreiundzwanzig Stunden des Tages zu verarbeiten. Um sich zu regenerieren und einen neuen Vierundzwanzig-Stunden-Reigen zu beginnen, um wie neugeboren anzutreten, unbelastet und unbeeindruckt. Doch Nevada hatte, wie alle anderen auch, diese Stellung nicht als die Herausforderung erkannt, die sie war. Wenn es wirklich so wirkungsvoll war, die Beine an der Wand entlang auszustrecken, dann musste es doch entsprechend mehr bringen, den Kopfstand frei im Raum zu machen, oder, noch besser, den Handstand! Erst die Krankheit hatte sie diese Übung schätzen gelehrt. Heute konnte sie tatsächlich keinen Tag mehr hinter sich bringen, ohne sich so an die Wand zu lehnen. Den Mädchen war es nach wenigen Minuten zu viel, sie begannen, die Augen zu öffnen, hin und her zu rutschen, die ersten Sandsäcke fielen zu Boden. Nevada beendete die Stunde.
    Dann nahm sie ein Klappmesser aus ihrer Satteltasche, wie sie den Beutel an der Rückenlehne des Rollstuhls nannte. Sie teilte den Kuchen in sieben gleich große Stücke und legte sie auf Papiertaschentücher.
    Â«Dijana hat diesen Ganeesha-Kuchen gebacken», sagte sie und gab jedem Mädchen ein Stück.
    Die Mädchen reagierten unterschiedlich. Rebecca machte übertrieben begeisterte Geräusche, während sie den Kuchen im Papiertaschentuch zerdrückte. Deniz wurde noch blasser um die Nase und wandte sich angewidert ab. Elma stopfte sich das ganze Stück auf einmal in den Mund und schaute Nevada dabei herausfordernd an. Suleika betrachtete ihr Stück mit gerunzelter Stirn, als hätte sie noch nie Schokoladekuchen gesehen.
    Dann erzählte Nevada ihnen die Geschichte von Ganeesha, dem Elefantengott. Seine Mutter war die Göttin Parvati, Shivas Geliebte. Doch sie hatte ihn ganz allein erschaffen, aus der Sandelholzpaste, die sie zum Baden benutzte, und Wasser aus dem Ganges. Parvati war es leid, dass es niemanden gab, der nur ihr gehörte, nur ihr diente, und nicht zuerst und vor allen anderen Shiva verpflichtet war. Sie hatte sich ihren Sohn zurechtmodelliert, genau wie sie ihn haben wollte, und ihm dann Leben eingehaucht. Er sollte vor ihrem Palast wachen und niemanden hereinlassen, während sie badete. Der Junge nahm seine Aufgabe so ernst, dass er ganze Scharen von Göttern abwehrte und nicht einmal Shiva hindurchließ. Dieser schlug ihm vor Wut den Kopf ab. Ohne zu wissen, wen er vor sich hatte.
    Parvati war außer sich. Sie drohte, die ganze Welt zu zerstören, wenn ihr Sohn nicht sofort wieder zum Leben erweckt und außerdem in Zukunft als wichtigster aller Götter verehrt würde, noch vor Shiva. Dieser tat alles, um ihre Forderungen zu erfüllen, doch auf die Schnelle fand sich nur der Kopf eines toten Elefantenbabys.
    Â«Ganeesha gilt als der Gott, der Hindernisse aus dem Weg räumt. Manchmal ist er aber auch selber ein Hindernis. Dann zwingt er uns, um ihn herumzugehen, einen anderen Weg einzuschlagen. Und im Nachhinein stellt sich heraus, dass das viel besser war.» Nevada spürte, dass die Mädchen sich mit dieser Erfahrung identifizieren konnten. Die alleinerziehende Mutter, der eifersüchtige Vater. Die Gewalt, die sofortige Reue. Die nur halb geglückte Wiedergutmachung.
    Â«Krass», sagte Rebecca. «Er hat doch genau das gemacht, was seine Mutter von ihm wollte. Und dafür schlägt man ihm dann den Kopf ab.» Sie zerkrümelte das Kuchenstück in ihrer Serviette. Die anderen nickten und kauten. Für einmal waren sie sich einig. Deniz nahm sich ein zweites Stück. Der Kuchen war

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