Das wahre Leben
ernst nehmen. Was er Ihnen gesagt hat.»
«Es tut mir leid», sagte Nevada. «Vielleicht sollte ich besser gehen.» In solchen Situationen wäre es schön, aufstehen und mit kerzengeradem Rücken zur Tür hinausgehen zu können. Das Kurbeln und Zirkeln mit dem Rollstuhl, das umständliche Ãffnen einer Tür, das Zurücksetzen und Weiterrollen hatte einfach nicht dieselbe Wirkung. Trotzdem setzte Nevada den Stuhl mit einem, wie sie hoffte, sichtlich beleidigten Ruck in Bewegung.
Annabelle hob eine Hand. «Nein, gehen Sie nicht! Noch nicht. Ich hab Sie extra herbestellt, weil ich will, dass Sie mir zuhören. Das sind Sie mir schuldig.»
Schuldig?, dachte Nevada. Ich ihr?
«Ich bin keine harte Frau. Ich bin nicht bitter. Ich war es nicht, als mein Mann mich verlieÃ, weil er meinte, ich würde zu viele Nächte im Kinderspital verbringen. Nicht als ich meine Arbeit verlor, nicht einmal, als ich die Liebe meines Lebens aufgeben musste, weil Dante plötzlich wieder zu mir zog. Ich habe mir so gewünscht, dass er sich noch einmal richtig verliebt. Aber warum in Sie? Warum nicht in eine hübsche, gesunde, junge Frau, die sich um ihn kümmern kann? Warum in eine Frau, die selber auf Hilfe angewiesen ist?»
«Das frage ich mich auch», sagte Nevada ehrlich. «Ich kann es mir nicht erklären. Aber es ist einfach so.»
«Das ist nicht fair. Dante hat nicht mehr viel Zeit, und diese Zeit sollte er nutzen.»
«Ich glaube, das tut er. Das tun wir. Zusammen.»
Annabelle winkte ab. «Sie verstehen mich nicht. Dante hat noch so viel vor. Er hat einen Roman geschrieben. Ãber einen Superhelden, dessen Körper immer mehr zerlegt wird, immer mehr Teile werden ersetzt. Und jedes neue Teil hat neue Kräfte. Tausend Seiten dick. Drei Jahre hat er daran geschrieben, während seiner letzten beiden Rückfälle. Er hat sogar einen Verlag gefunden, ein Ausschnitt wurde schon in der Zeitung gedruckt, es gab Interviews, man verglich ihn mit seinem Superhelden. Dann kam der nächste Rückfall. Und der Erscheinungstermin wurde verschoben. Wissen Sie, warum?»
Nevada schüttelte den Kopf.
«Weil sich das Buch nach seinem Tod besser verkaufen wird.» Annabelle nahm ein Album vom Tisch und schlug es auf. Unwillkürlich rutschte sie näher zu Nevada, damit sie die Bilder betrachten konnte. Sie saà jetzt auf der äuÃersten Kante des Sofas. «Hier, sehen Sie: Die ersten vier Jahre seines Lebens war er gesund. Und es gibt kaum Bilder aus der Zeit. Wir waren glücklich.» Auf einem Bild fütterte Dante Schwäne. Ein dunkelhaariger Mann kauerte neben ihm, schaute über seinen Kopf in die Kamera. Schaute verliebt in die Kamera, die Annabelle auf ihn richtete. «Wir arbeiteten beide, Dante war in der Krippe. Dann fing es an. Eine Erkältung, die nicht aufhörte. Typisch Krippenkind, dachten wir. Wir gingen nicht sofort zum Arzt. Wir nahmen es nicht ernst. Es war Leukämie.» Dante blass, dünn, glatzköpfig im Spitalbett. Die riesigen blauen Augen. In einer Gruppe andere glatzköpfiger Kinder, die in Papiertröten bliesen. «Geburtstag auf der Kinder-Onko. Man riet uns, ein zweites Kind zu bekommen, um einen direkten Spender für Dante zu haben. Aber wie sollten wir ⦠wie konnten wir ⦠Mein Mann verlieà mich, noch bevor ein Spender gefunden war. Er fühlte sich vernachlässigt. Das ist ein Klassiker, das hab ich in der Selbsthilfegruppe erfahren, ein typischer Fall. Man denkt ja immer, man sei anders als die anderen. Besonders im Leid. Aber das ist man nicht.» Dante im FuÃballdress. «Es wurde ein Spender gefunden, Dante wurde gesund. Wir hatten ein paar gute Jahre. In der Zeit verliebte ich mich. Sehen Sie, hier: auch ein jüngerer Mann. Ich verurteile Sie nicht. Aber ich kann Ihnen sagen, seine Mutter war auch nicht gerade begeistert: eine Geschiedene! Mit einem kranken Kind!» Der FuÃballtrainer hielt Dante im Arm, balancierte ihn auf seinem muskulösen Arm, auch er schaute verliebt in die Kamera, verliebt, aber wachsam. «Nando wollte mich heiraten, eine Familie gründen, ich hatte natürlich Angst. Was, wenn jedes Kind, das ich gebar, anfällig war für die Krankheit? Ich zögerte noch, da hatte Dante einen Rückfall. Diesmal wusste ich schon, was das für eine Beziehung bedeutet, ich machte mit Nando Schluss, bevor es ihm zu viel werden konnte. Ich wollte
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