Das wahre Leben
sich zusammen. Sie wandte sich wieder ab. Sie war allein.
«Das ist auch kein normaler Notfall», hörte sie Lukas sagen. Notfall. Suleika. Sie musste sich zusammenreiÃen. Sie musste eine Mutter sein. Als sie Max kennenlernte, hatte sie seine Telefonnummer mit Lippenstift auf den Badezimmerspiegel geschrieben, Bis zu ihrem Auszug aus der WG war die Nummer am Spiegel sichtbar gewesen, als fettige Spur, nicht abwischbar. Damals hatte sie sich eine der Zahlen falsch gemerkt und ihn deshalb wochenlang nicht erreichen können. Sie hatte geglaubt, er habe ihr mit Absicht eine falsche Nummer gegeben. Doch das hatte ihre Entschlossenheit, diesen kühlen Mann zu erobern, nur gestärkt. SchlieÃlich hatte sie ihre Mutter angerufen. Ihre Mutter, das wusste Erika heute noch, hatte ihr die Nummer von Max nur widerwillig gegeben. Als habe sie ihr Max nicht vorgestellt. Als sei es nicht von Anfang an ihr Plan gewesen, Erika und Max zusammenzuführen und so die Kontrolle über die Stofffabrik zu behalten.
Erika legte den Hörer wieder auf. Es war jetzt an ihr. Mit schnellen Strichen füllte sie das Formular aus. Sie war wieder Madame Zürichberg, Direktorengattin, Gastgeberin, an deren Tisch schon die Stadtpräsidentin gesessen hatte.
«Wer ist Doktor Fankhauser?», wandte sie sich an Lukas.
«Der Chefarzt der Neurologie», antwortete die Krankenschwester patzig. Verstimmt vielleicht, dass ihr Geplänkel mit Lukas unterbrochen wurde. Aber das war Erika egal. Irgendwo im Labyrinth dieser Gänge wartete Suleika darauf, dass man ihr half. Suleika brauchte eine Mutter. Sie brauchte sie jetzt.
«Rufen Sie ihn trotzdem an», sagte Erika. «Ich konnte meinen Mann nicht erreichen, aber ich werde meine Freundin Juliana Müller anrufen.» Wer das war, wusste jeder: Die Lebensgefährtin der Stadtpräsidentin.
«Ohne Telefon?»
Lukas ging dazwischen. «Ich habe ihn auf dem Handy erreicht», sagte er. «Er ist auf dem Weg.» Er nahm Erika das Klemmbrett aus der Hand und legte es auf den Tisch. Dann drückte er den Arm der Krankenschwester auf eine Art, die sie ihren Ãrger wenigstens für einen Moment vergessen lieÃ. Und bevor Erika sich wundern konnte, warum diese unschuldige Geste sie irritierte, hatte Lukasâ Hand ihren Platz auf ihrer Schulter wiedergefunden.
Er führte sie den Gang entlang. Er schien genau zu wissen, wohin sie gingen. Mit jedem Schritt rückte Erika näher zu ihm. Als sie den Untersuchungsraum erreichten, berührten sich ihre Körper von der Hüfte bis zur Schulter. Dann wichen sie auseinander.
«Mama!» Suleika lag blass auf einem schmalen Bett. Man hatte sie, wohl mangels eines passenden Nachthemds, nackt unter ein weiÃes Laken gelegt. Sie war an einen Monitor angeschlossen, der leise piepste. Sie fröstelte. Sie hatte geweint. Ihre blauen Augen hefteten sich in dem Moment, als sie hereinkam, auf Erika und lieÃen sie nicht los. Erika erschrak. So hatte Suleika sie nicht mehr angeschaut, seit sie ein Baby war. Sie erwartete alles von ihr. Und Erika wusste nicht, was das war.
«Doktor Fankhauser, danke, dass Sie gekommen sind.» Lukas schüttelte einem hochgewachsenen älteren Herrn in StraÃenkleidung die Hand. «Ich habe die Patientin zuerst untersucht. Es sieht nach einem epileptischen Anfall aus, aber wir können bei uns in der Praxis kein EEG machen.»
«Von dieser Praxis müssen Sie mir noch erzählen, mein Lieber. Aber erst einmal», wandte er sich an Suleika, «kümmern wir uns um dich. Kannst du mir beschreiben, was passiert ist? Alles, woran du dich erinnerst.»
Erinnerst du dich?, dachte Erika. Erinnerst du dich?
«Ich war im Yoga», flüsterte Suleika. «In der Turnhalle. Es war anstrengend. Es war heiÃ. Ich schaute zu der Kollegin rüber, und dann â ich weià nicht. Plötzlich sah sie so komisch aus.» Sie schloss die Augen. «Ich habe Kopfweh.»
«Hm.» Doktor Fankhauser machte sich eine Notiz. «Wir machen ein EEG, dann schauen wir weiter. Wenn es ein epileptischer Anfall war, werden wir die Ursachen dafür ermitteln müssen.» Er nickte einem Pfleger zu, der einen Rollstuhl heranschob und dann unsicher vom Stuhl zur Patientin blickte. Die, das war offensichtlich, nicht in diesen Stuhl passen würde.
«Transportieren Sie die Patientin im Bett», sagte Doktor Fankhauser beiläufig. Suleika hatte den Austausch nicht
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