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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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bemerkt, den Blick. Aber Erika. Erika wurde schon wieder wütend. Und die ganze Zeit schaute Lukas sie an, als erwarte er etwas von ihr. Dass sie sich wie eine Mutter benahm?
    Â«Kann ich mitgehen?», fragte sie. Sie griff nach Suleikas Hand. Sie fühlte sich kühl an und feucht.
    Â«Wir gehen alle mit», sagte Doktor Fankhauser. «Hier sind wir fertig. Nach dem EEG werden wir schon etwas mehr wissen. Aber ich möchte Suleika so oder so mindestens eine Nacht hierbehalten. Wir haben Glück, auf der Neurologie ist ein Bett frei.»
    Â«Erika …», sagte Lukas. Er schien auf etwas zu warten. Erika wusste nicht, was das sein könnte. Der Pfleger steckte Suleikas Kleider in einen Plastikbeutel und legte ihn auf das Fußende des Bettes. Erika nahm ihren Rucksack. Sie verließen das Zimmer, der Pfleger mit dem Bett voraus.
    Â«Gibt es in der Familie Fälle von Epilepsie oder anderen neurologischen Erkrankungen?», fragte Doktor Fankhauser unterwegs.
    Erika schwieg. Lukas sah sie immer noch an. Erika schwieg weiter.
    Â«Drogen?» Doktor Fankhauser wandte sich jetzt direkt an Suleika. «Wenn du irgendetwas genommen hast, sag es mir bitte, das erleichtert mir die Arbeit.» Er klang freundlich und sachlich. Suleika weinte leise.
    Erika ließ ihre Hand los. «Ich muss meinen Mann anrufen», sagte sie wieder. Als könnte Max ihr helfen. Als könnte er eingreifen. Verhindern, dass alles an die Oberfläche drängte, was sie so lange vergessen hatte. Was niemand sehen sollte.
    Erika nahm Suleikas Rucksack und suchte nach ihrem Handy. Suleika würde Max’ Nummer gespeichert haben. Auch die von Marga. Oder Gerda? Eine der beiden Frauen würde Max Gesellschaft leisten. Oder wissen, wo er war. Erika wühlte blind im Rucksack, als ihre Finger etwas Vertrautes berührten. Sie zog einen Tiefkühlbeutel aus Plastik heraus, der einige kleine weiße Tabletten enthielt. Sie hob den Beutel hoch und zeigte ihn den beiden Ärzten. Doktor Fankhauser nahm ihn und seufzte. «Ritalin», sagte er. «Kann in hohen Dosen epileptische Anfälle auslösen.» Beinahe wirkte er enttäuscht. Dass der Fall so leicht zu lösen war. Noch enttäuschter wirkte Lukas. Aber darauf konnte Erika jetzt keine Rücksicht nehmen.
    Suleika weinte wieder. «Es tut mir leid», murmelte sie. «Es tut mir leid.»
    Erika nahm ihre Hand. Mir auch, dachte sie. Mir auch.
    Â 
4.
    Auch damals, vor sechzehn Jahren, stand plötzlich Lukas vor ihr. Lukas aus der WG. Erika fühlte, wie ihre Knie nachgaben. Lukas trat einen Schritt vor, fing sie auf, nahm ihr das Bündel ab und reichte es weiter. Erika war noch nie so erleichtert gewesen. Die Arme, die sie hielten, waren ihr vertraut. In ihnen fühlte sie sich wohl. Hier wollte sie bleiben.
    Doch er drückte ihre Oberarme und schob sie dann ein bisschen von sich weg. «Wir bringen Suleika jetzt zum Röntgen», sagte er. Woher wusste er, wie ihre Tochter hieß? Hatte sie ihm eine Geburtsanzeige geschickt?
    Sie wurde in ein Zimmer geführt. Sie musste sich auf einen Stuhl setzen. Ein Glas Wasser trinken.
    Eine überarbeitete Ärztin befragte sie. «Nun erzählen Sie doch noch einmal ganz genau, was passiert ist, Frau Keiner.»
    Das kann doch nicht sein, dachte Erika. Das kann doch nicht sein, dass ich schon jetzt versage! Kaum hatte sie den Entschluss gefasst, bei ihrer Tochter alles richtig zu machen, beging sie das schlimmste aller mütterlichen Vergehen: Sie ließ ihr Kind fallen.
    Â«Ich weiß es nicht», sagte Erika. «Ich muss aufgestanden sein, um die Flasche warm zu machen.»
    Â«Sie stillen nicht?»
    Â«Nein. Ich musste Antibiotika nehmen …»
    Â«Hm.»
    Das hatte die Stillberaterin auch gesagt: «Hm.»
    Â«Dann muss ich eingeschlafen sein. Und als ich aufwachte, lag ich auf dem Boden. Mit Suleika im Arm.»
    Â«Was für ein schöner Name, Suleika.»
    Erika hörte nicht hin. Sie versuchte sich zu erinnern. Aber in ihrem Kopf waren keine Bilder mehr. «Ich wollte sie noch umziehen», sagte sie. «Aber dann hab ich das Blut in der Nase gesehen, und mich erinnert … Kopfverletzung, Nasenbluten …»
    Â«Das war ganz richtig», sagte die Notärztin beruhigend. «Das haben Sie gut gemacht.»
    Â«Wo ist meine Tochter?»
    Â«Sie ist beim Röntgen. Machen Sie sich keine Sorgen, sie ist in guten Händen.»
    In Lukas’ Händen,

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