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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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dachte Erika und nickte. «Sie hat gar nicht geschrien. Erst als ich sie ausziehen wollte. Als ich ihren Arm bewegt habe. Seither hat sie nicht mehr aufgehört. Meinen Sie, sie hat das Ärmchen gebrochen?» Erika begann zu weinen.
    Â«Machen Sie sich keine Sorgen», sagte die Ärztin freundlich. «Bei einem so kleinen Kind ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ein Knochen gebrochen ist. Die Knochen sind noch ganz weich und biegsam. Da braucht es schon mehr …»
    In diesem Moment kam Lukas wieder herein. Erika sah zu ihm auf, er erwiderte ihren Blick nicht. Er klemmte ein Röntgenbild an die Lichtschiene. Die Ärztin stand auf und trat zu ihm. Gemeinsam betrachteten sie das Bild. Als die Ärztin sich wieder umdrehte, hatte sich auch ihr Blick verändert.
    Â«Was ist?», fragte Erika. «Was ist mit meiner Tochter?»
    Â«Ihre Tochter hat elf gebrochene Rippen und ein gebrochenes Schlüsselbein links.»
    Â«Aber Sie haben doch gesagt …»
    Â«Es braucht sehr viel Gewalt, um so junge Knochen zu brechen. Ein Sturz reicht dafür nicht. Wir müssen herausfinden, was da passiert ist.»
    Â«Aber ich weiß es nicht … Ich weiß es nicht!»
    Â«Erzählen Sie mir noch einmal alles ganz genau. Jede Einzelheit.»
    Die Stimme der Ärztin klang immer noch freundlich. Erst Tage später wurde Erika klar, was sie gefragt, was sie gedacht hatte: Was haben Sie Ihrer Tochter angetan? Haben Sie sie geschlagen, an die Wand geworfen, aus Versehen überfahren?
    Und was hatte Lukas gedacht? Lukas, der sie jahrelang heimlich verehrt hatte? Nicht so heimlich, dass sie es nicht gemerkt hätte. Lukas, mit dem sie gespielt, dem sie in einer betrunkenen Nacht nachgegeben hatte. Lukas, der plötzlich aus der WG ausgezogen war, von einem Tag auf den anderen, ohne sich zu verabschieden. Lukas, der ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte.
    Â«Sie hat geweint. Sie schläft bei mir im Bett. Ich bin aufgestanden, habe sie hochgehoben …»
    Â«Leben Sie allein?»
    Â«Nein, nein, ich bin verheiratet. Aber mein Mann arbeitet außerhalb. Unter der Woche übernachtet er dort, das ist einfacher.»
    Â«Heute ist Samstag», stellte die Ärztin fest. Dann sah sie auf ihre Uhr. «Ich meine Sonntag.»
    Â«Das weiß ich auch. Er hat angerufen, es gab Probleme mit einer Kollektion. Er stellt Stoffe her, die für Filmproduktionen verwendet werden, wissen Sie.»
    Â«Sie waren also allein zu Hause», unterbrach sie die Ärztin. «Allein mit Suleika.»
    Â«Sie hat geweint, ich bin aufgewacht, ich habe sie hochgehoben, ich bin mit ihr in die Küche gegangen, um die Flasche warm zu machen.»
    Â«Erinnern Sie sich daran, die Flasche gefüllt zu haben? Erinnern Sie sich daran, ihr die Flasche in den Mund gesteckt zu haben?»
    Â«Ich setzte sie in die Wippe, die steht auf der Küchenablage. Sie weinte lauter, ich versuchte sie zu beruhigen, während ich gleichzeitig das Wasser aufkochte, wir haben so einen englischen Tauchsieder, da muss ich genau aufpassen, dass das Wasser nicht zu heiß wird.»
    Â«Wie haben Sie versucht, sie zu beruhigen?»
    Â«Ich rede mit ihr. So …» Erika verfiel in einen monotonen Singsang. «So, mein Mädchen, jetzt machen wir das Wasser warm, das dauert nicht lang, es zischt ja schon, ja nicht zu heiß, schau, das Pulver abfüllen, eineinhalb Messlöffel, nicht weinen, Liebes, es kommt ja gleich …» Erika brach ab. Sie hörte, wie verzweifelt ihre Stimme klang. Sie sah, wie ihre Hand einen zusätzlichen Löffel Milchpulver in die Flasche gab, vielleicht schlief Suleika dann besser.
    Â«Ich habe die Milch auf mein Handgelenk getropft, sie war etwas zu heiß, ich habe kaltes Wasser aus dem Wasserhahn dazugetan, nur ein bisschen. Dann hab ich sie aus der Wippe gehoben, ich habe mich aufs Fensterbrett gesetzt und ihr den Sauger in den Mund geschoben und dann …»
    Â«Und dann?»
    Erika sah sich auf ihre Tochter hinunterschauen, sah den rosaroten Strampler, die gierig saugenden Lippen, die dunkelblauen Augen, starr auf ihre geheftet. Nie hatte jemand sie so angesehen wie ihre Tochter, sie schien direkt durch sie hindurchzusehen. Schien sie mit ihrem Blick festzuhalten, auswendig zu lernen. Dann plötzlich ein schwarzer Punkt in der Mitte ihres Blickfeldes, ein leichtes Flackern, der Punkt wurde größer, breitete sich aus, als würde ein Loch von hinten in

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