Das wahre Leben
er der Ambulanz durch den Verkehr. Sie schwiegen. Erika wünschte sich, sie hätte etwas, irgendetwas, um die Angst zu mindern, den Schmerz abzufedern. Sie wusste nicht einmal genau, was sie fühlte, nur, dass es zu viel war. SchlieÃlich schloss sie die Augen und begann zu zählen. Als sie bei eintausendzweihundertdreiundachtzig angekommen war, hielt Lukas an. Sie standen hinter der Ambulanz vor dem Eingang der Notaufnahme.
«Steig schon aus», sagte er zu Erika. «Bleib bei ihr, ich finde dich!»
Erika rannte hinter den Sanitätern her. Die Trage schwankte unter Suleikas Gewicht. Ihr Kommen war angekündigt worden, eine Krankenschwester stand bereits wartend da.
«Aber das ist doch ⦠wie soll ich denn jetzt ⦠hättet ihr aber ankündigen können â¦Â», hörte Erika. Und die Antwort des schlechtgelaunten Sanitäters: «Warum soll es euch bessergehen als uns? Uns hat auch keiner was gesagt!»
Und schon war Suleikas Gewicht wieder das einzige Thema. Erika seufzte ungeduldig, doch ihr Missmut richtete sich nicht gegen die Pfleger, sondern gegen ihre Tochter. Selbst jetzt, von Sorge und Schuldgefühlen zerfressen, musste sie denken: Warum tust du dir das an? Warum tust du mir das an? Mach doch verdammt noch mal einfach eine Diät!
Das war doch nicht so schwer. Weniger zuführen als verbrauchen. Weniger essen, mehr bewegen. Das musste doch jedem einleuchten. Es gab keine schweren Knochen, keine langsameren Stoffwechsel. Es gab nur mehr Zufuhr als Verbrauch. Es gab nur Prioritäten. Wer dünn sein wollte, musste das zur Priorität machen. So einfach war das.
Wäre sie nicht so dick, würden die Ãrzte ernsthaft nach der Ursache ihres Anfalls forschen und ihn nicht als Folge ihres monströsen Umfangs abtun. Würden nicht automatisch sie, Suleikas Mutter, dafür verantwortlich machen. Als hätte sie die Möglichkeit zu kontrollieren, was ihre Tochter sich einverleibte. Als hätte sie sich nie gewünscht, sie könnte sie einfach einsperren und hungern lassen.
«Bringt sie ins Zwei», sagte die Krankenschwester zu den Sanitätern. Als Erika der Trage folgen wollte, hielt sie sie zurück. «Wir brauchen ein paar Angaben von Ihnen.»
Erika war überfordert. Wo lebte sie? Sie hatte sich noch nicht mal ab- und wieder angemeldet. Vergessen. In der Sommerhitze schien alles in der Luft zu hängen. Erst der Herbst würde entscheiden. Ob sie sich eine Auszeit genommen oder ein neues Leben begonnen hatte. Sollte sie so tun, als gäbe es die Siedlung nicht, die alte Adresse angeben? Aber wie erklärte sie dann Suleikas Anwesenheit in der Siedlung? Wie würde Lukas seinen Einsatz verrechnen, wenn sie nicht in der Siedlung angemeldet war?
Plötzlich stand er hinter ihr. Seine Hand auf ihrer Schulter fühlte sich richtig an. Als gehörte sie dorthin. Plötzlich erinnerte sich ihre Schulter an diese Hand, die sie vor langer Zeit schon einmal berührt hatte. Damals, als sie die Liebe neu erfinden, ihre Beziehungen neu definieren wollten. Ganze Teile ihres Körpers erinnerten sich mit einem Mal an Lukas, an seine Berührung, an seine Haut. Wie weit waren sie damals gegangen? Plötzlich sah sie wieder sein Zimmer vor sich, das sie in der ganzen Zeit nur einmal betreten hatte. Das schmale Bett, die ordentlichen Bücherstapel auf dem Boden. Sie sah sich im Dämmerlicht aus dem Zimmer schlüpfen, nackt, ihr Kleiderbündel an sich gepresst ins Bad huschen. Wie hatte sie das vergessen können!
Erika trat einen Schritt zurück. «Ich muss meinen Mann anrufen», sagte sie, und die Hand verschwand. «Ich habe kein Telefon», fiel ihr ein. Die Krankenschwester zeigte mit dem Kinn zur Theke. «Erst die Neun wählen», sagte sie knapp. «Und nur innerorts.»
Erika begann zu wählen. Sie merkte, dass sie sich nicht an die Telefonnummer ihres eigenen Mannes erinnerte und auch sonst an keine, die sie in ihrem Gerät gespeichert hatte. Hilflos schaute sie zu Lukas hinüber, der leise mit der Krankenschwester verhandelte und nach einem Neurologen fragte, den er kannte.
«Doktor Fankhauser kommt normalerweise nicht in den Notfall», sagte die Frau, die müde aussah und blass und nicht gewillt, irgendetwas über ihre Vorschriften hinaus zu tun. Lukas schien das zu erkennen. Aus den Augenwinkeln sah Erika, wie er sich ihr zuneigte, wie er sie zum Lächeln brachte. Etwas in ihr zog
Weitere Kostenlose Bücher