Das wahre Leben
sie. «Ein bisschen Geheimnis muss man sich schon bewahren!» Sie schlug vor, dass sie stattdessen Erika begleiten würde. Aber Erika hatte sich durchgesetzt. Für einmal.
Die Geburt hatte fast zweiundsiebzig Stunden gedauert, und er war die ganze Zeit bei ihr geblieben. Erika konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so viel Zeit zusammen verbracht hatten. Er hatte ihre Hand gehalten und ihre feuchte Stirn abgewischt, er hatte sie aufgemuntert, ihr sogar vorgesungen. Doch dann war er verschwunden. Eine ganze Woche hatte sie im Krankenhaus gelegen. Allein. Die Besuchszeit am Abend war für Väter reserviert. Doch Max tauchte kein einziges Mal auf. Die Krankenschwestern schauten sie mitleidig an, diese schöne junge Frau, privat versichert, das Einzelzimmer voller Blumen. Immer allein. Erika stopfte Pralinen in sich hinein, schachtelweise. Vor dem Fenster sah sie Bäume. Die kahlen Ãste, das zaghafte Grün.
Nachmittags bekam sie Besuch von ihren Freundinnen, von Gerda und Jolanda und Mona. Gierig fragten sie nach den Einzelheiten der Geburt. Und sie erzählte bereitwillig. Nichts hatte sie auf das vorbereitet, was kommen würde. Schmerzen, unaushaltbar, und in dem Moment, in dem sie schwächer wurden, schon wieder vergessen. Bis die nächste Welle anrollte und sie die Hebamme anbrüllte: «Macht es weg, ich will es nicht mehr, ich habe es mir anders überlegt!»
Lass mich das überleben und ich werde nie mehr irgendetwas wollen. Grobe Gebete.
Nach der Geburt fuhr Max zurück ins Glarnerland. Dafür kam Erikas Mutter sie besuchen. Als hätten sie sich abgesprochen.
«Pass bloà auf, dass du Max nicht zu kurz kommen lässt», sagte Marylou. «Männer schätzen es nicht, an zweiter Stelle zu stehen.»
«Max kommt nicht zu kurz», sagte Erika.
«Männer holen sich, was sie brauchen. Wenn er es bei dir nicht bekommt, darfst du dich nicht wundern.»
«Ich wundere mich nicht.»
Marylou erklärte Erika, wie sie Max mit der Hand befriedigen konnte, während sie das Baby stillte. Erika sagte nichts. Ihre Mutter hatte ihr nie zugetraut, einen Mann wie Max halten zu können. Und das Stillen klappte auch nicht richtig. Ihre Brustwarzen waren entzündet. Jedes Mal, wenn das Baby sie in den Mund nahm, wollte Erika sterben. Kein Folterknecht könnte sich Grausameres ausdenken. Erika begann, Suleika zu fürchten. Ihre Bedürfnisse. Ihren Hunger. Erikas Schmerz gegen Suleikas Ãberleben. Wer nicht stillt, war damals die Meinung, könnte sein Kind auch gleich am StraÃenrand aussetzen, Krankheitserregern und Einsamkeit preisgeben. Wer nicht stillt, muss sich später nicht wundern.
Erika wunderte sich später auch nicht. Sie nahm die Strafe an.
«Ach, Quatsch!», sagte Marylou. «Früher war es genau umgekehrt, ich wollte dich unbedingt stillen, aber man lieà mich nicht. Damals machten das nur ungebildete Dorffrauen, Bauerntöchter. Meine Schwiegermutter hatte selber noch eine Amme. Eine fremde Frau, die ihren Sohn stillte! Na gut, dein Vater ist nicht das beste Beispiel. Aber ich werde nie verstehen, wie sich deine Generation gegen jeden Fortschritt wehrt. Keine Medikamente, keine Wegwerfwindeln, keine Fläschchen. Ihr seid doch einfach selber schuld!»
Erika hatte von WGs gehört, in denen Frauen ihre mehr oder weniger gleichaltrigen Kinder reihum stillten. Und sich so gegenseitig zu ein wenig Freiheit verhalfen. Doch diese kurze und flüchtige Phase der gegenseitigen Unterstützung in den achtziger Jahren hatte Erika gerade verpasst.
Während ihrer Schwangerschaft waren sie in eine Genossenschaftssiedlung gezogen, in der Gerda und Jolanda bereits mit ihren Familien lebten. Doch deren Kinder waren unterdessen im Schulalter. Erikas Freundinnen hatten die Kleinkinderphase hinter sich gelassen und nicht das geringste Interesse daran, sie mit Erika noch einmal durchzuleben.
Als Erikas Fieber über vierzig Grad stieg, gab ihr der Arzt eine Spritze, die ihre Milchproduktion beendete. Die Antibiotika sollten nicht in den kindlichen Organismus gelangen. Suleika bekam die Flasche. Sie weinte weniger und Erika mehr. Der Arzt behielt sie zwei Tage länger im Krankenhaus, um sicher zu sein, dass sie keine «Depressiönli» entwickelte, wie er es nannte.
Doch irgendwann musste sie nach Hause. Gerda holte sie ab. «Soll ich bei dir bleiben?», bot sie halbherzig an.
«Nicht nötig, Max kommt
Weitere Kostenlose Bücher