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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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ein Bild gebrannt, bis das ganze Bild verbrannt war, aufgelöst, ausgelöscht.
    Â«Ein Filmriss», sagte sie.
    Â«Hm», machte die Ärztin und schrieb etwas auf.
    Â«Ein Filmriss?» Plötzlich schaute Lukas sie wieder an.

Nevada
1.
    Â«Fassen wir zusammen.» Frau Rothenbühler drückte eine Taste und schaute erwartungsvoll an die weiße Wand. Sie hatte eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet, die das Scheitern des Sommerprogramms im Allgemeinen und das von Nevada im Speziellen illustrierte. Ihre grimmige Befriedigung darüber irritierte sogar Frau Siebenthaler. Die Psychologin hatte bisher die Position der strengen Sozialarbeiterin immer unterstützt. Heute drückte sie ihre Ambivalenz mit Kopfschütteln und leisem Zungenschnalzen aus, doch Frau Rothenbühler ließ sich nicht aufhalten. «Auf einer Skala von eins bis zehn – zehn wäre ein auf allen Ebenen normal funktionierendes, zufriedenes Mädchen …»
    Â«Gibt es das überhaupt?», unterbrach sie Ted. «Ich meine, ich habe fünf Töchter, ich weiß nicht, was ein ‹auf allen Ebenen normal funktionierendes Mädchen› ist.»
    Â«Das ist allerdings bedauerlich für einen Vater und Schulleiter.» Frau Rothenbühlers Lippen waren schmal. «Zum besseren Verständnis habe ich die Skala hier aufgeschlüsselt. Wir berücksichtigen die fünf Bereiche Schule, Familie, Sozialleben, Gesundheit und Liebesleben. In jedem Bereich sind null, ein oder zwei Punkte möglich.»
    Â«Und wer hat diese Werte festgelegt? Die Mädchen selber?»
    Â«Natürlich nicht. Das ist unsere unabhängige und professionelle Einschätzung. Schauen Sie hier, zu Beginn des Programms bewegten sich alle Teilnehmerinnen im unteren und mittleren Bereich – zwischen vier und sechs Punkten. Und jetzt sind sie hier.» Frau Rothenbühler klickte wieder und die bunten Rechtecke, die die Mädchen verkörpern sollten, schrumpften weiter.
    Â«Das ist doch eine vollkommen willkürliche Beurteilung.» Ted fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er sah müde aus, dachte Nevada.
    Â«Willkürlich? Dann schauen wir uns doch die einzelnen Fälle etwas genauer an.» Klick. Klick. Klick. «Elmas gewalttätige Tendenzen sind schon in der ersten Woche eskaliert. Deniz ist schwanger. Mit vierzehn!»
    Â«Ich dachte, eine Muslimin könne gar nicht schwanger werden», murmelte Nevada. «Es ist doch in ihrer kulturellen Prägung gar nicht angelegt.»
    Frau Rothenbühler ignorierte sie. «Lana, die als Mobbingopfer bereits einen schweren Stand in der Gruppe hatte, verletzte sich schon in der ersten Yogastunde. Ihre Mutter hat übrigens auch eine Beschwerde eingereicht.»
    Â«Auch?», fragte Ted. «Was heißt ‹auch›? Ich habe keine Kenntnis davon. Meines Wissens hat Lanas Mutter nur das Gespräch gesucht …» Er blickte zu Nevada hinüber, die den Kopf schüttelte. Sie hatte sich nicht, wie versprochen, bei Lanas Mutter gemeldet. Sie hatte es vergessen. Sie war verliebt. «Und von mehreren Beschwerden kann schon gar keine Rede sein», fuhr Ted unbeirrt fort.
    Â«Das ist nur eine Frage der Zeit», behauptete Frau Rothenbühler trotzig. «Und wenn die Presse Wind davon bekommt, sind wir alle dran. Wir hätten den Versuch nach dem ersten Zwischenfall abbrechen sollen.»
    Â«Warum denn die Presse?»
    Â«Weil die im Sommer nichts zu berichten haben! Die stürzen sich doch auf jede Kleinigkeit, vor allem, wenn das Sozialamt involviert ist. Das ist ein gefundenes Fressen.»
    Â«Aber wie sollte denn die Presse davon erfahren?»
    Â«Nach diesem letzten Vorfall würde es mich nicht wundern. Ein Mädchen, das gar nicht offiziell im Programm eingeschrieben war, das nicht einmal in der Siedlung angemeldet ist, hat eine Ritalin-Überdosis genommen. Mitten in Ihrer Yogastunde, Frau Marthaler, vor Ihren Augen! Und wissen Sie was? Der Vater des Mädchens ist ein persönlicher Freund unserer Stadtpräsidentin. Ted, wenn du es darauf angelegt hast, dass die Stadt diesen ganzen Schulversuch schließt, dann Glückwunsch. Dann bist du auf dem richtigen Weg.»
    Ted fuhr sich wieder mit den Händen übers Gesicht. Als wollte er die Worte, die ihn getroffen hatten, abwischen. Nevada hatte vergessen, wie viel ihm an dieser Schule lag. «Wir haben Glück im Unglück», sagte er immer. «Andere Schulen

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