Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Zumindest für eine Weile sind die öffentlichen Kontinente auf Erde 2 wieder sicher für die Digis, aber der Schaden ist nicht mehr rückgängig zu machen. Es gibt keine Möglichkeit, unter privater Domäne laufende Kopien aufzuspüren, und auch wenn niemand mehr Videos von gefolterten Digis hochlädt, ertragen viele Neuroblast-Besitzer die Vorstellung nicht, dass Derartiges passieren könnte; sie legen ihre Digis dauerhaft still und verlassen die Usergruppe.
Andere Leute hingegen freuen sich sehr darüber, dass Digikopien erhältlich sind, ganz besonders von Digis, die des Lesens mächtig sind. Einige Mitarbeiter eines KI-Forschungsinstituts fragen sich, ob Digis wohl eine eigene Kultur entwickeln könnten, falls man sie in einem Treibhaus ließe; doch bisher hatten sie keinen Zugang zu Digis, die lesen können, und keinerlei Interesse daran, selbst welche großzuziehen. Nun sammeln die Forscher so viele Kopien von lesefähigen Digis wie nur möglich – hauptsächlich Origami-Digis, da diese im Lesen am besten sind, aber sie mischen auch ein paar Neuroblast-Digis darunter. Sie bringen die Digis auf Privatinseln, die mit Bibliotheken voller Bücher und Software ausgestattet sind, und lassen die Inseln im Tempo von Treibhäusern laufen. In den Diskussionsforen wird wild über Laborstädte und Mikrokosmen im Tischfußballformat spekuliert.
Derek hält die Idee für lachhaft – aus ein paar ausgesetzten Kindern werden keine Autodidakten, auch wenn sie noch so viele Bücher zur Verfügung haben –, daher überraschen die Ergebnisse ihn nicht weiter: Mit der Zeit verwildert jede einzelne der Testpopulationen. Die Digis sind von Natur aus nicht aggressiv genug, als dass es mit ihnen ähnlich bergab gehen würde wie mit den Kindern im Herr der Fliegen ; sie zerfallen einfach in lose, nichthierarchische Gruppen.
Anfangs hält die Macht der Gewohnheit die Alltagsroutine der einzelnen Gruppen aufrecht – während der Schulstunden lesen sie und spielen mit Lernsoftware, oder sie gehen auf den Spielplatz –, aber ohne positive Verstärkung lösen sich diese Rituale auf wie billiger Bindfaden. Jeder Gegenstand wird zum Spielzeug, jeder Ort zum Spielplatz, und allmählich vergessen die Digis alles, was sie gelernt haben. Sie entwickeln etwas, das entfernt einer Kultur ähnelt und das man möglicherweise bei wilden Digi-Populationen beobachten könnte, wenn sie sich ohne menschliche Hilfe in den Biomen entwickelt hätten.
Das alles ist zwar recht interessant, aber weit entfernt von der aufkeimenden Zivilisation, auf welche die Forscher gehofft hatten, daher gestalten sie die Inseln um. Sie versuchen, die Testpopulationen stärker zu durchmischen, indem sie Besitzer gebildeter Digis bitten, ihnen Kopien zu spenden; zu Dereks Überraschung bekommen sie tatsächlich einige von Leuten, die es satthaben, Leseunterricht zu bezahlen, und denen es reicht, dass die verwilderten Digis nicht leiden. Die Forscher schaffen verschiedene Anreize – allesamt automatisiert, sodass keinerlei Interaktion in Echtzeit erforderlich ist –, um die Digis zu motivieren. Sie bauen ein paar Schwierigkeiten ein, sodass Trägheit zu Nachteilen führt. Zwar entgehen so einige der neuen Populationen der Verwilderung, doch bei keiner zeichnet sich eine Entwicklung hin zu technologischem Fortschritt ab.
Die Forscher schlussfolgern, dass dem Origami-Genom etwas fehlt, doch nach Dereks Meinung liegt der Fehler bei den Forschern selbst. Sie sind einer simplen Wahrheit gegenüber blind: Ein komplexer Geist entwickelt sich nicht von selbst. Wäre es anders, würden verwilderte Kinder sich nicht von anderen unterscheiden. Und der Geist wächst nicht einfach wie Unkraut, das zum Blühen keinerlei Fürsorge braucht; sonst würden Kinder in Waisenhäusern prächtig gedeihen. Damit ein Intellekt sein volles Potenzial auch nur annähernd erreichen kann, muss er sich durch die Begegnung mit anderen bilden. Eine solche Bildung versucht Derek Marco und Polo zu vermitteln.
Marco und Polo zanken sich zwar manchmal, aber die Verstimmung zwischen ihnen hält nie lange an. Vor ein paar Tagen jedoch haben die beiden sich über die Frage gestritten, ob es gerecht ist, dass Marco früher als Polo instanziiert wurde, und aus irgendeinem Grund ist der Streit eskaliert. Seither haben die beiden Digis kaum ein Wort miteinander gesprochen, daher ist Derek erleichtert, als sie gemeinsam zu ihm kommen.
»Es ist schön, euch beide wieder zusammen zu sehen. Habt ihr euch
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