Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
soll, doch für den Augenblick verzichtet er darauf, Ana anzurufen und sie um Rat zu fragen, und postet stattdessen eine Frage im Forum.
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Wieder vergeht ein Jahr. Das Magma der Ökonomie fließt in eine neue Richtung, und als Folge verschieben sich auch die virtuellen Welten wie tektonische Platten. Eine neue Plattform namens Weltenraum , die mit der neuesten verteilten Systemarchitektur implementiert wird, wird zum Brennpunkt der digitalen Welt. Währenddessen hören Irgendwo und Dimension 4 auf zu expandieren und finden zu einem stabilen Gleichgewicht. Erde 2 war lange ein ruhender Pol im virtuellen Universum, der allem Auf und Ab widerstanden hat, doch jetzt beginnt ihre Topographie zu zerfallen; nacheinander verschwinden die virtuellen Landmassen wie reale Inseln, überflutet von einer Welle der allgemeinen Gleichgültigkeit.
Gleichzeitig ist durch das Scheitern der Treibhausexperimente, die Miniaturzivilisationen hervorbringen sollten, das allgemeine Interesse an digitalen Lebensformen geschwunden. Hin und wieder tauchen seltsame neue Tierarten in den Biomen auf – eine Art mit exotischer Körperstruktur etwa, oder eine mit neuartiger Fortpflanzungsstrategie –, doch allgemein stimmt man überein, dass die Auflösung der Biome zu gering ist, als dass sich dort echte Intelligenz entwickeln könnte. Mit den Herstellern der Origami- und Fabergé-Genome geht es bergab. Viele Experten bezeichnen Digis als Sackgasse, als Beweis dafür, dass künstliche Intelligenzen mit physischen Körpern nur zur Unterhaltung taugen – bis eine neue Genom-Engine namens Sophonce vorgestellt wird.
Die Designer von Sophonce wollten Digis entwickeln, die sich mittels einer Software statt durch Interaktion mit Menschen unterrichten lassen; zu diesem Zweck haben sie eine Engine geschaffen, die asoziales Verhalten und zwanghafte Persönlichkeiten begünstigt. Die Digis, die mit dieser Engine erzeugt werden, scheiden überwiegend wegen psychologischer Fehlbildungen aus, doch ganz wenige von ihnen erweisen sich auch bei einem Minimum an Betreuung als lernfähig: Wenn man diesen Digis die richtige Lernsoftware gibt, verbringen sie damit ohne Murren mehrere Wochen subjektiver Zeit, was bedeutet, dass sie in den Treibhäusern laufen können, ohne zu verwildern. Ein paar Bastler führen Sophonce-Digis vor, die bei mathematischen Tests besser abschneiden als Neuroblast-, Origami- und Fabergé-Digis, obwohl sie viel weniger Echtzeit-Training hinter sich haben. Es wird spekuliert, dass Sophonce-Digis innerhalb weniger Monate zu tüchtigen Arbeitern werden könnten, wenn man ihre Energien in praktische Bahnen lenken könnte. Leider sind sie jedoch so reizlos, dass kaum jemand sich auch nur für die kurze Zeit, die dazu nötig wäre, mit ihnen abgeben will.
Ana hat Jax mit nach »Siege of Heaven« gebracht, dem einzigen Spielkontinent, der im letzten Jahr auf Erde 2 neu herausgekommen ist. Sie führt ihn auf der Silber-Plaza herum, wo die Spieler sich zwischen den Missionen treffen, einem riesigen Platz aus weißem Marmor, Lapislazuli und ziseliertem Gold, der auf einer dicken Wolke ruht. Ana muss ihren Spielavatar tragen, einen falkenähnlichen Cherub, aber Jax behält seinen gewohnten kupfernen Roboteravatar an.
Als sie in Richtung der anderen Spieler schlendern, sieht Ana die Bildunterschrift eines Digis. Sein Avatar ist ein Zwerg mit einem übergroßen Kopf, der Standardavatar für einen Drayta: ein Sophonce-Digi, das auf die Logikrätsel der Spielkontinente spezialisiert ist. Der frühere Besitzer des Draytas hat es mit einem Rätselgenerator trainiert, den er als Raubkopie vom Fünf-Dynastien-Kontinent auf der Weltenraum -Plattform heruntergeladen hat, und anschließend Kopien des Digis als Public Domain freigegeben. Inzwischen nehmen so viele der Spieler einen Drayta auf ihre Missionen mit, dass die Spielehersteller größere Designänderungen erwägen.
Ana macht Jax auf das andere Digi aufmerksam. »Siehst du den da drüben? Das ist ein Drayta.«
»Wirklich?« Jax hat schon von Draytas gehört, aber das hier ist der erste, den er zu sehen bekommt. Er geht zu dem Zwerg hinüber. »Hi«, sagt er. «Ich heiße Jax.«
»Will Rätsel lösen«, sagt der Drayta.
»Was für Rätsel du magst?«
»Will Rätsel lösen.« Der Drayta wird unruhig und läuft im Wartebereich herum. »Rätsel lösen.«
Ein in der Nähe stehender Spieler mit einem Fischadler-Seraph-Avatar unterbricht sein Gespräch und zeigt mit dem Finger auf den Drayta;
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