Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
fühlen?«
»Ein Gespräch mit meiner Schwester hat mich darauf gebracht«, sagt er. Dereks Schwester unterrichtet Kinder, die mit Downsyndrom auf die Welt gekommen sind. »Sie hat erzählt, dass manche Eltern ihre Kinder nicht zu sehr unter Druck setzen wollen, weil sie Angst haben, sie könnten scheitern. Die Eltern meinen es gut, aber durch das Verhätscheln hindern sie die Kinder daran, ihr volles Potenzial auszuschöpfen.«
Ana braucht ein bisschen, um sich mit dieser Idee anzufreunden. Normalerweise betrachtet sie die Digis wie extrem begabte Menschenaffen, und auch wenn manche Leute in der Vergangenheit Menschenaffen mit Kindern verglichen haben, die besondere Förderung benötigen, war das immer eher eine Metapher. Die Digis buchstäblich als Kinder mit Förderbedarf zu betrachten, erfordert einen Perspektivwechsel. »Was glaubst du, mit wie viel Verantwortung können die Digis umgehen?«
Derek spreizt ratlos die Finger. »Ich weiß es nicht. In gewisser Weise ist es wie beim Downsyndrom – da ist jeder Mensch anders. Wenn meine Schwester mit einem neuen Kind arbeitet, muss sie jedes Mal improvisieren. Wir haben sogar noch weniger, von dem wir ausgehen können, weil bisher noch niemand ein Digi über einen so langen Zeitraum hinweg aufgezogen hat. Falls bei den Hausaufgaben nur herauskommt, dass die Digis sich schlecht fühlen, dann hören wir natürlich damit auf. Aber ich will nicht, dass Marco und Polo ihr Potenzial vergeuden, nur weil ich Angst hatte, sie ein bisschen unter Druck zu setzen.«
Ana begreift, dass Derek unter hohen Erwartungen etwas ganz anderes versteht als sie selbst. Nicht nur das – ihr wird klar, dass seine Sicht der Dinge die bessere ist. »Du hast recht«, sagt sie nach kurzem Schweigen. »Wir sollten versuchen, sie Hausaufgaben machen zu lassen.«
Es ist ein Jahr später, ein Samstag, und Derek stellt gerade eine Arbeit fertig, bevor er sich mit Ana zum Mittagessen trifft. Während der letzten paar Stunden hat er eine Avatar-Modifikation getestet, mit der man die Proportionen von Kopf und Rumpf der Digis verändern kann, damit sie weniger kindlich aussehen. Immer mehr Digibesitzer, die sich entschieden haben, die Ausbildung der Digis zu verbessern, stören sich an der Diskrepanz zwischen dem stets gleichbleibend niedlichen Äußeren der Avatare und ihren zunehmenden Fähigkeiten. Dieses Addon soll das beheben und es den Besitzern leichter machen, in ihren Digis kompetente Wesen zu sehen.
Bevor Derek geht, checkt er seine Nachrichten und findet zu seiner Verblüffung einige Mails von Unbekannten, die ihm Abzocke vorwerfen. Die Mails scheinen seriös, also liest er sie noch einmal gründlicher. Die Absender beschweren sich darüber, dass ein Digi sie auf Erde 2 angesprochen und um Geld gebeten hat.
Derek begreift, was passiert sein muss. Seit einiger Zeit gibt er Marco und Polo Taschengeld, das sie normalerweise für Spiele-Abos oder virtuelle Spielsachen ausgeben; sie wollten eine Erhöhung, doch er ist standhaft geblieben. Anscheinend haben sie beschlossen, wahllos irgendwelche Leute auf Erde 2 anzusprechen, und sind dabei abgeblitzt; aber weil die Digis unter Dereks Erde 2 -Account laufen, sind die Leute davon ausgegangen, dass er ihnen das Betteln beigebracht hat.
Nachher wird er an diese Leute ausführliche Entschuldigungsschreiben schicken, aber erst einmal sagt er Marco und Polo, dass sie sofort in ihre Roboterkörper kommen sollen. Die Herstellungstechnik ist inzwischen so weit, dass er sich zwei eigene, speziell auf Marcos und Polos Avatare abgestimmte Roboterkörper leisten konnte. Wenig später erscheinen ihre Pandabär-Gesichter in den Roboterhelmen, und Derek rügt sie, weil sie fremde Leute um Geld gebeten haben. »Ich hätte gedacht, ihr wisst es besser«, sagt er.
Polo wirkt schuldbewusst. »Ja, weiß besser«, sagt er.
»Warum habt ihr das dann getan?«
»War meine Idee, nicht die von Polo«, sagt Marco. »Wusste, Leute nicht geben Geld. Wusste, sie an dich schreiben.«
Derek ist verblüfft. »Ihr wolltet, dass die Leute wütend auf mich sind?«
»Das passiert, weil wir sind unter dein Account«, sagt Marco. »Nicht würde passieren, wenn wir haben eigene Accounts, wie Voyl.«
Jetzt geht Derek ein Licht auf. Die Digis haben offenbar von einem Sophonce-Digi namens Voyl gehört. Voyls Besitzer, ein Rechtsanwalt namens Gerald Hecht, hat einen Antrag auf Gründung der Voyl-Gesellschaft eingereicht, und Voyl läuft inzwischen mit einem Erde 2 -Account, der
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