Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
eine Weile getragen und geübt, sich darin fortzubewegen. Gestern hat Ana mit den Digis einen Test durchgeführt, bei dem sie aus der Rückenlage aufstehen, eine Treppe hoch- und wieder hinuntergehen und erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein balancieren mussten. Das war, als würde sie eine Kleinkindergruppe einem Alkoholtest unterziehen.
»Das war Jax«, sagt Ana.
»Gut, mach ihn bereit.«
Die Empfangsdame überlässt Ana ihren Arbeitsplatz, die sich von dort aus in Erde 2 einloggt und Jax zu sich herruft. Jax hat Glück, denn der Testavatar unterscheidet sich wenig von seinem eigenen Avatar; er ist massiger, aber Gliedmaßen und Rumpf haben ähnliche Proportionen. Im Vergleich dazu hatten die Digis, die mit Pandabär- und Tigerjungen-Avataren aufgewachsen sind, größere Schwierigkeiten.
Robyn überprüft das Diagnosedisplay des Roboters. »Ich glaube, wir sind startbereit.«
Ana öffnet auf dem virtuellen Sportplatz ein Portal und gibt Jax ein Zeichen. »Okay, Jax, komm rein.«
Auf dem Bildschirm schreitet Jax durch das Portal, und im Empfangsbereich erwacht der kleine Roboter zum Leben. Die LEDs am Kopf des Roboters leuchten auf und zeigen Jax’ Gesicht, wobei aus dem überdimensionierten Kopf ein durchsichtiger, kugelförmiger Helm wird. Dieses Design sorgt für Ähnlichkeit mit dem normalen Avatar des Digis, ohne dass ein personalisierter Körper hergestellt werden müsste. Jax sieht aus wie ein kupferner Roboter, der eine Rüstung aus Obsidian trägt.
Jax dreht sich um sich selbst, um den ganzen Raum in sich aufzunehmen. »Wow.« Er hält inne. »Wow wow. Klingt anders. Wow wow wow.«
»Alles okay,«, sagt Ana. »Denk daran, ich hab dir gesagt, dass deine Stimme in der Außenwelt vielleicht anders klingt.« Die Infobroschüre von SaruMech enthielt eine entsprechende Warnung; ein Gehäuse aus Metall und Plastik leitet den Schall nicht so wie Avatare auf Erde 2 .
Jax schaut nach oben, um Ana anzusehen, und sie betrachtet ihn staunend. Sie weiß, dass er sich nicht wirklich in dem Körper befindet – Jax’ Software läuft immer noch auf dem Server, und dieser Roboter ist nur ein originelles Stück Peripherie –, doch die Illusion ist perfekt. Und auch wenn sie auf Erde 2 oft zusammen waren, ist es aufregend, dass Jax jetzt vor ihr steht und ihr in die Augen blickt.
»Hi, Jax«, sagt sie. »Ich bin’s, Ana.«
»Du hast anderen Avatar«, sagt Jax.
»In der Außenwelt nennen wir es ›Körper‹, nicht ›Avatar‹. Und hier wechseln die Leute auch nicht ihre Körper; das können wir nur auf Erde 2 . Hier tragen wir immer denselben Körper.«
Jax schweigt, um das zu verarbeiten. »Du immer so aussieht?«
»Nun, ich kann mich anders anziehen. Aber ja, so sehe ich aus.«
Jax kommt herüber, um sie genauer zu betrachten, und Ana geht in die Hocke, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, sodass sich beide beinahe auf Augenhöhe befinden. Jax schaut auf ihre Hände, dann auf die Unterarme; sie trägt heute etwas Kurzärmliges. Er führt seinen Kopf näher heran, und Ana hört das schwache Surren, als die Kameraaugen des Roboters sich scharfstellen. »Kleine Haare auf deinen Armen«, sagt er.
Sie lacht; die Arme ihres Avatars sind so glatt wie bei einem Baby. »Ja, das stimmt.«
Jax hebt eine Hand und streckt Daumen und Zeigefinger aus, um nach ein paar Haaren zu greifen. Er unternimmt mehrere Anläufe, aber wie die Zangen eines Greifautomaten rutschen seine Finger immer wieder ab. Dann erwischt er ein Stück Haut und zieht daran.
»Autsch. Jax, das tut weh.«
»Entschuldigung.« Forschend betrachtet Jax Anas Gesicht. »Kleine, kleine Löcher in dein Gesicht.«
Ana nimmt die allgemeine Erheiterung im Raum wahr. »Die nennt man ›Poren‹«, sagt sie und steht auf. »Wir können später über meine Haut reden. Willst du dich jetzt nicht erst einmal hier umschauen?«
Jax wendet sich ab und geht langsam im Eingangsbereich umher, wie ein Miniaturastronaut, der eine fremde Welt erkundet. Er sieht das Fenster, das auf den Parkplatz hinausgeht, und bewegt sich darauf zu.
Das Licht der tief stehenden Nachmittagssonne fällt schräg durch die Scheibe. Jax geht auf die Sonnenstrahlen zu und weicht dann abrupt zurück. »Was das?«
»Das ist die Sonne. Sie ist genauso wie die auf Erde 2 .«
Ganz vorsichtig bewegt Jax sich wieder auf das Licht zu. »Nicht genauso. Diese Sonne hell hell.«
»Das stimmt.«
»Sonne muss nicht hell hell hell.«
Ana lacht. »Wahrscheinlich hast du recht.«
Jax
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