Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
anbieten – und das, obwohl Blue Gamma nicht genug Leute hatte, um Maskottchen in einer anderen Sprache aufzuziehen.
Ana schickt Jax zum Spielplatz zurück und ruft ein Pandabär-Digi namens Marco zu sich. Sie will gerade mit dem Formerkennungstest anfangen, als Mahesh auf eine Ecke ihres Bildschirms deutet. »Hey, schauen Sie sich das an.« Auf dem Hügel neben dem Spielplatz lassen sich ein paar Digis den Hang hinunterrollen.
»Hey, cool«, sagt sie. »Das habe ich bei ihnen noch nie beobachtet.« Sie lässt ihren Avatar zu dem Hügel hinübergehen, und Jax und Marco folgen ihnen und gesellen sich zu den übrigen Digis. Zuerst probiert es Jax, und beinahe sofort bleibt er liegen, aber mit ein bisschen Übung schafft er es, den ganzen Hügel hinunterzurollen. Das wiederholt er einige Male und läuft dann zurück zu Ana.
»Ana zuschaut?«, fragt Jax. »Jax liegen rollen runter!«
»Ja, ich hab dich gesehen! Du bist den Hügel hinuntergerollt!«
»Nunterrollt!«
»Das hast du toll gemacht.« Erneut streicht sie ihm über den Kopf.
Jax rennt zurück und lässt sich weiter hinunterrollen. Auch Lolly macht bei dem neuen Spiel begeistert mit. Unten angekommen rollt sie noch ein wenig weiter und stößt dann heftig gegen eine der Spielbrücken.
»Ih, ih, ih«, sagt Lolly. »Scheiße.«
Sofort schauen alle zu Lolly hin. »Wo hat sie denn das gelernt?«, fragt Mahesh.
Ana schaltet ihr Mikrofon aus und lässt ihren Avatar zu Lolly hinübergehen, um sie zu trösten. »Ich weiß es nicht«, sagt sie. »Sie muss es wohl irgendwo aufgeschnappt haben.«
»Nun, wir können kein Digi verkaufen, das ›Scheiße‹ sagt.«
»Moment«, sagt Robyn. In einem separaten Fenster auf ihrem eigenen Bildschirm holt sie sich die archivierten Daten der Trainingssessions und lässt eine Suche über die Audiodatei laufen. »Anscheinend war dies das erste Mal, dass ein Digi das gesagt hat. Was die Frage angeht, wann wir es gesagt haben …« Alle drei schauen zu, wie die Ergebnisse der Abfrage im Fenster aufgelistet werden; offenbar ist Stefan, einer der Trainer in Blue Gammas australischer Abteilung, der Übeltäter. Blue Gamma beschäftigt Mitarbeiter in Australien und England, damit die Digis auch dann trainiert werden können, wenn das Büro an der Westküste geschlossen ist; die Digis brauchen keinen Schlaf – oder vielmehr kann man die Verarbeitungsroutine, die bei ihnen dem Schlaf entspricht, in Hochgeschwindigkeit ablaufen lassen –, daher kann man rund um die Uhr mit ihnen üben.
Sie gehen alle Videoaufnahmen durch, in denen Stefan während einer Trainingseinheit »Scheiße« gesagt hat. Die heftigste Entgleisung war vor drei Tagen. Anhand des Erde 2 -Avatars in dem Film ist es schwer zu sagen, was passiert ist, aber es klingt, als hätte er sich das Knie am Schreibtisch gestoßen. Sie finden weitere Aufnahmen, die mehrere Wochen zurückliegen, aber in keinem Fall ist der Ausbruch ähnlich laut und heftig.
»Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragt Robyn.
Die Lösung liegt auf der Hand. So kurz vor der Produkteinführung haben sie nicht die Zeit, noch einmal wochenlang zu trainieren; sollen sie einfach darauf bauen, dass das Wort in den früheren Fällen bei den Digis keinen Eindruck hinterlassen hat? Mahesh denkt kurz nach und trifft dann eine Entscheidung. »Also gut. Setzen Sie sie drei Tage zurück und lassen Sie sie ab da weiterlaufen.«
»Alle?«, fragt Ana. »Nicht nur Lolly?«
»Wir dürfen kein Risiko eingehen – setzen Sie sie alle zurück. Und ich möchte, dass Sie ab jetzt jede Trainingseinheit nach Schlüsselworten scannen. Wenn wieder mal einer flucht, setzen Sie sie alle auf den letzten Sicherungspunkt zurück.«
Und so verlieren die Digis drei Tage Erfahrung. Einschließlich des ersten Mals, als sie einen Hügel hinuntergerollt sind.
2
Die Digis von Blue Gamma sind ein Hit. Im ersten Jahr nach dem Verkaufsstart werden sie einhunderttausendmal verkauft, und – was noch wichtiger ist – die Kunden lassen sie auch laufen. Blue Gamma setzt auf ein ähnliches Geschäftsmodell wie bei Rasierern und deren Klingen, denn der Verkauf der Digis allein würde die Entwicklungskosten nicht wieder hereinbringen; daher verlangt die Firma von den Kunden jedes Mal Gebühren, wenn diese Digifutter generieren, und sorgt so dafür, dass die Kasse klingelt, solange die Menschen ihrer Digis nicht überdrüssig werden.
Und bisher finden die Kunden die Digis äußerst unterhaltsam und lassen sie den ganzen Tag
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