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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Stimmen, und Paul hatte diese Weise schon einmal gehört.
    »Wir bekommen Schwierigkeiten«, ahnte er.
    Coll wandte ihm hastig den Kopf zu. »Was?«
    Der Schädel des Ungeheuers durchbrach in der Nähe des Bugs steuerbords die Wasseroberfläche. Höher, immer höher stieg er empor, überragte die Maste der Prydwen . Der Mond erleuchtete den gigantischen, flachen Kopf: die lidlosen Augen, die klaffenden Raubtierkiefer, die gefleckte, graugrüne, schleimige Haut. Die Prydwen wurde von etwas gerammt. Averren kämpfte mit dem Ruder, und Coll rannte los, um ihm zu helfen. Zwei der Wachleute stießen einen Warnruf aus.
    Im ungewissen Mondlicht erhaschte Paul einen Blick auf etwas Weißes, das einem Horn ähnelte, zwischen den grässlichen Augen des Ungeheuers. Er hörte immer noch den Gesang, deutlich und schmerzlich schön. Eine grausige Vorahnung überkam ihn. Instinktiv wandte er sich ab. Auf der anderen Seite der Prydwen hatte sich der Schwanz des Ungeheuers gekrümmt, und er war hoch erhoben, versperrte die Sicht auf den südlichen Himmel, um auf sie herabzuschmettern!
    Rabenflügel . Er wusste Bescheid.
    »Der Seelenverkäufer!« schrie Paul. »Loren, erzeuge einen Schutzschild!«
    Er sah den riesigen Schwanz seine volle Höhe erreichen. Sah ihn mit der Wucht eines schlimmen Todes herniedersausen, um sie allesamt zu zerquetschen. Sah dann, wie er mit brutaler Kraft mitten in der Luft auf etwas auftraf. Die Prydwen hüpfte unter der Druckwelle wie ein Spielzeug auf und ab, doch der Schutzschild des Magiers hielt stand. Loren kam auf Deck gerannt und Diarmuid und Arthur, die Matt Sören stützten. Paul entdeckte die kräftezehrende Anspannung im Gesicht des Zwerges, und dann schaltete er bewusst all seine Sinneswahrnehmungen aus. Es war keine Zeit zu verlieren. Er wandte sich nach innen, dem Pulsschlag Mörnirs zu.
    Und fand ihn, entsetzlich schwach, dünn wie das Sternenlicht neben dem Mond. Was es in gewisser Weise auch war. Er hatte sich zu weit entfernt. Liranan hatte die Wahrheit gesagt. Wie konnte er mitten auf dem Meer den Meergott zu etwas zwingen?
    Er versuchte es. Spürte den dritten Pulsschlag in sich und rief mit dem vierten: »Liranan!«
    Er hörte es zwar nicht, doch er spürte es, das mühelose Entziehen des Gottes. Verzweiflung drohte ihn zu ersticken. Mit seinem Bewusstsein tauchte er hinab, wie er es damals am Strand getan hatte. Überall hörte er das Singen, und dann aus großer Tiefe und aus weiter Ferne die Stimme Liranans: »Tut mir leid, Bruder. Es tut mir ehrlich leid.«
    Er versuchte es wieder. Legte seine ganze Seele in diese Anrufung. Wie von unter dem Meeresspiegel sah er über sich den Schatten der Prydwen, und er erhielt eine Vorstellung von der wahren Größe des Ungeheuers, das Cader Sedat bewachte. Der Seelenverkäufer, dachte er wieder. Überwältigender Zorn stieg in ihm auf, er legte all seine blinde Kraft in seinen Ruf. Er spürte, dass er im Begriff war, unter der entsetzlichen Anstrengung zu zerbrechen. Es reichte nicht aus.
    »Ich habe dich doch gewarnt, dass es so kommen würde«, hörte er den Meergott sagen. In weiter Ferne sah er den silbernen Fisch durch das dunkle Wasser davonschwimmen. Diesmal gab es keine Sterne im Meer. Über ihm hüpfte die Prydwen erneut heftig auf und nieder, und er wusste, dass es Loren irgendwie gelungen war, auch noch den zweiten Schlag von des Ungeheuers Schwanz abzuwehren. Ein drittes Mal war das unmöglich, dachte er. Den dritten Schlag kann er nicht abfangen.
    Und in seinem Kopf sprach eine Stimme: Dann darf es nicht zum dritten Schlag kommen. Zweimal Geborener, hier spricht Gereint. Wiederhole deine Anrufung, mit meiner Hilfe. Ich bin im Land verwurzelt.
    Sogleich trat Paul mit dem blinden Schamanen in Verbindung, den er noch nie gesehen hatte. Kraft durchströmte ihn; der Götterpuls Mörnirs schlug ungestümer als sein eigener. In Gedanken unter Wasser streckte er die Hand aus, nach unten durch den dunklen Ozean. Er spürte, wie jene Kraft, die sich auf der Ebene in Gereint gründete, aus ihm hervorbrach. Er fühlte deutlich, wie sie ihren Höhepunkt erreichte. Über ihm erhob sich wieder der mächtige Schwanz. »Liranan!« rief Paul zum letzten Mal. Auf dem Deck der Prydwen hörten sie es wie das Grollen des Donners.
    Und der Meergott kam.
    Paul erkannte es am Ansteigen des Meeresspiegels. Er hörte den Gott aufschreien vor Freude, dass ihm erlaubt war, einzugreifen. Da spürte er, wie die Verbindung zu Gereint abriss, und noch ehe er

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