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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Warnlied und dem Rettungslied, in stetiger Abfolge. Seine Stimme war bei weitem nicht mehr das, was sie in jenen Tagen gewesen war, als die Bewohner anderer Höhlen ihn noch gebeten hatten, zu ihnen zu kommen und die Tanora für ihre Toten anzuführen. Und dennoch setzte er seinen Gesang fort: Zu verstummen hätte die endgültige Kapitulation bedeutet. Nur indem er sang, konnte er seine Gedanken vor dem Abschweifen bewahren. Er hatte ja nicht einmal Gewissheit darüber, wie viele von ihnen in der eigenen Höhle noch am Leben waren, und obendrein hatte er keine Ahnung, was in den anderen Höhlen vorging. Seit vielen Jahren hatte niemand mehr auf ihre genaue Zahl geachtet, und sie waren während der Dunkelheit überfallen worden.
    Beim dritten Zyklus des Warnliedes fiel Iraimas liebliche Stimme wieder mit ein, und dann empfand er in seinem Herzen rotgoldene Trauer und Zuneigung, als er vernahm, wie Ikatere mit seiner tiefen Stimme für kurze Zeit mitsang. Sie sprachen nicht miteinander, denn Worte kosteten Kraft, aber Ruana modulierte seine Stimme so, dass sie die von Ikatere umrankte, und er wusste, der andere würde ihn verstehen.
    Und dann, als draußen, wo ihre Bezwinger am Hang ihr Lager aufgeschlagen hatten, soeben die Dämmerung hereinbrach, berührte Ruana im sechsten Sangeszyklus mit dem Rettungslied einen fremden Gedankenstrom, und er wurde ergriffen von goldsilberner, mondsonniger Hoffnung. Im Augenblick war er wieder allein. Er nahm die wenige Kraft zusammen, die ihm verblieben war, konzentrierte seinen Gesang auf einen bestimmten Punkt, auch wenn ihn das unendliche Mühe kostete, und sandte ihn wie einen Strahl in Richtung des Bewusstseins, das er entdeckt hatte.
    Da wurde dieses Bewusstsein von dem Strahl erfasst, und es schickte mühelos ein Lachen zu ihm zurück, und Iraima versank in überschwarze Tiefen, denn er wusste jetzt, wen er da entdeckt hatte. »Narr!« hörte er rufen, und er fühlte sich wie von scharfen Klingen zerschnitten. »Hast du etwa geglaubt, ich würde dich nicht abschirmen? Wohin, glaubst du, sind deine schwächlichen Töne vorgedrungen?«
    Er war froh, allein gesungen zu haben, so dass die anderen dies nicht zu ertragen brauchten. Er horchte in sich hinein und verspürte wieder den Wunsch, Hass oder Wut empfinden zu können, auch wenn er für einen solchen Wunsch würde büßen müssen. Er sprach auf dem Strahl, den sein Gesang geschaffen hatte: »Du bist Rakoth Maugrim. Ich benenne dich mit deinem Namen.«
    Und hörte ohrenbetäubendes Gelächter mitten in seinem Kopf. »Ich habe mich vor langer, langer Zeit schon selber benannt. Was für eine Kraft könntest du daraus schöpfen, mich beim Namen zu nennen, du Narr aus einer Rasse von Narren? Ihr seid es nicht einmal wert, versklavt zu werden.«
    »Unmöglich«, sandte Ruana aus der überschwarzen Tiefe. »Sathain.«
    In seinem Kopf loderten Flammen auf. Rotschwarz. Er fragte sich, ob er den anderen wohl dazu bringen könne, ihn zu töten. Dann –
    Wieder ertönte Gelächter. »Du wirst keinen Blutfluch aussenden können. Ihr seid verloren. Jeder einzelne von euch. Und für den letzten wird niemand die Tanora singen. Hättet ihr meine Forderungen erfüllt, könntet ihr wieder zu den Mächtigen in Fionavar gehören. Nun jedoch werde ich euren Faden aus dem Gewirk reißen und ihn um meinen Hals tragen.«
    »Nicht Sklaven«, sagte Ruana, doch mit schwacher Stimme. Aus dem Überschwarz.
    Er hörte Gelächter, dann riss der Gesangsstrahl ab.
    Lange Zeit lag Ruana im Dunkeln, würgte an dem von Kiroas Verbrennung stammenden Rauch und wurde gepeinigt vom Gestank des Fleisches und den Geräuschen der Unreinen bei ihrem Festmahl.
    Dann begann Ruana wieder mit den Gesängen, denn er hatte nichts anderes zu bieten und weigerte sich, sein Ende stumm zu erwarten, und Iraima und der innig geliebte Ikatere stimmten mit ein. Dann kehrte sein Herz aus dem Überschwarz zu goldenen Gefühlen zurück, als er Tamures Stimme vernahm. Zu viert stimmten sie den Ferngesang an. Nicht in der Hoffnung, dass er so weit tragen würde, wie es eigentlich nötig war, denn der Entwirker schirmte sie ab, und sie waren sehr schwach. Nicht um irgendwen zu erreichen, sondern um nicht stumm zu sterben, nicht als Unterworfene, niemals als Sklaven, auch wenn ihr Faden aus dem Webstuhl gerissen zu werden und für immer in der Finsternis zu verschwinden drohte.
     
    Ihr war ein anderes Schicksal bestimmt als Arthur, das wusste Jennifer, auch wenn ihrer beider Bestimmung

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