Das wandernde Feuer
während ihm dies durch den Kopf ging, stieg er vom Pferd und sah sich auf dem Pfad dem grauen Hund gegenüber.
Ein Jahr war vergangen und noch mehr, doch der Mond schien hell, und er konnte die Narben erkennen. Narben, ihm zugefügt unter dem Sommerbaum, während Paul gefesselt und hilflos war und Galadan gekommen war, ihm das Leben zu nehmen. Und zurückgewiesen worden war von dem Hund, der nun vor Paul stand, auf dem Pfad, der zu Darien führte.
Paul war die Kehle wie zugeschnürt. Er trat einen Schritt vor. »Hell leuchtet die Stunde«, rief er ihm zu und sank auf die Knie in den Schnee.
Einen Augenblick lang war er seiner Sache nicht sicher, doch dann kam der gewaltige Hund herbei und ließ es zu, dass er die Arme um seinen Hals legte. Er gab ein tiefes Knurren von sich, und Paul hörte darin, dass er ihn als Gleichen unter Gleichen anerkannte.
Er beugte sich zurück, um genau hinzuschauen. Die Augen waren noch dieselben wie beim ersten Mal, als er sie auf der Palastmauer gesehen hatte; doch jetzt konnte er es mit ihnen aufnehmen, er besaß genügend Tiefe, um ihre Trauer in sich aufzunehmen, und dann wurde ihm plötzlich noch etwas anderes klar.
»Du hast ihn bewacht«, sagte er. »Ich hätte es wissen müssen.«
Wieder drang ein Knurren tief aus der Brust des Hundes hervor, aber Paul las seine Bedeutung an den glänzenden Augen des Tiers ab. Er nickte. »Du musst gehen. Es war mehr als nur der Zufall, der mich hierhergelockt hat. Ich werde heute Nacht hier bleiben und mich mit dem Morgen auseinandersetzen, wenn es soweit ist.«
Noch einen Augenblick verweilte der Hund ihm gegenüber, dann lief er mit einem weiteren tiefen Knurren an ihm vorbei und gab den Weg zur Hütte frei. Dabei sah Paul die Narben noch einmal und deutlicher, und das Herz tat ihm weh.
Er drehte sich um und wurde gewahr, dass der Hund es ihm gleichgetan hatte, als wollte er Lebewohl sagen. Er entsann sich ihres letzten Abschieds und des Heulens, das im Herzen des Götterwaldes erklungen war.
Er sprach: »Was kann ich dir nur sagen? Ich habe geschworen, den Wolf zu töten, wenn wir einander das nächste Mal begegnen.«
Der Hund hob den Kopf. Paul flüsterte: »Das mag vielleicht ein vorschnelles Versprechen gewesen sein, aber wenn ich tot bin, wer kann es mir dann noch zum Vorwurf machen? Du hast ihn abgewehrt. Ihn zu töten, ist mir vorbehalten, wenn ich es schaffe.«
Und da kam der Hund zu ihm zurück, dort, wo er immer noch auf dem Pfad kauerte. Der graue Hund, der in sämtlichen Welten der Gefährte genannt wurde, leckte ihm zärtlich das Gesicht, ehe er wieder davontrabte.
Paul aber weinte, er, dessen trockene Augen ihn dazu bestimmt hatten, sich an den Sommerbaum zu begeben. »Lebe wohl«, rief er sanft. »Und gehe leichten Herzens. Ein wenig Freude steht jedem zu. Auch dir. Der Morgen wird das Licht bringen.«
Er beobachtete, wie der Hund den Hang hinauflief, den er selbst gerade erst herabgestiegen war, und hinter der Biegung verschwand, hinter welcher auch Kevin verschwunden war.
Nach einer Weile richtete er sich auf, nahm die Zügel seines Pferdes, klinkte das Tor auf und begab sich hinüber zur Scheune. Er stellte sein Pferd in einen leeren Pferch.
Nachdem er zunächst die Scheune und dann das Tor verschlossen hatte, ging er über den Hof zur Hintertür der Hütte. Er trat auf die Veranda. Ehe er sich bemerkbar machte, hob er den Blick: über ihm die Sterne und der Mond, wenige rasch dahinziehende Wolkenfetzen, die mit dem Wind gen Süden trieben. Sonst war nichts zu sehen. Dort oben waren sie, wie er wusste, neun Berittene am Himmel. Acht von ihnen waren Könige, aber der auf dem weißen Pferd war ein Kind.
Er klopfte und rief leise, um sie nicht zu ängstigen: »Ich komme als Freund.«
Diesmal öffnete sie rasch ihre Tür und überraschte ihn damit. Ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen. Sie hatte ein Gewand eng um sich gerafft. Sie sagte: »Ich habe mir gedacht, es könnte jemand kommen. Ich habe ein Licht angelassen.«
»Danke«, erwiderte Paul.
»Kommt herein. Er schläft, endlich. Bitte seid leise.«
Paul trat ein. Sie wollte ihm den Mantel abnehmen und entdeckte, dass er keinen trug. Ihre Augen weiteten sich.
»Ich verfüge über einige Kräfte«, erklärte er. »Wenn ihr es mir erlaubt, würde ich gerne eine Nacht lang hier bleiben.«
Sie fragte: »Demnach ist er endgültig fort?« Das war eine Stimme, die alle Tränen längst hinter sich gelassen hatte. Irgendwie war das viel schlimmer.
Paul nickte.
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