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Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)

Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)

Titel: Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Bukowski
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und er hörte auf zu trommeln und beobachtete sie. Von den reglosen Fingern an der Flasche bis hinunter zum Schnitt des Schuhs neben der Schabe war er von schlanker Gestalt, geschmeidig, frauenhaft, ohne feminin zu wirken, und er strahlte eine Würde aus, die an Könige, an Fürsten denken ließ, an Behütetes und Verwöhntes, und hätte man es nicht besser gewusst, hätte man meinen können, das Leben sei spurlos an ihm vorübergegangen. (Er setzte den Fuß vor und zertrat die Schabe.) Er war um die dreißig, und sein Gesicht sah wie das eines Denkers zugleich jünger und doch wieder älter aus. Seine Bewegungen waren zurückhaltend und leise, immer vom Kopf gesteuert, und wurden im Gedränge manchmal hektisch und plump, eine Täuschung, um nicht aufzufallen. Während des Prozesses, als er im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand, hatte es in seiner Zelle von Reportern gewimmelt. Er lächelte ununterbrochen, als sie ihn befragten, dennoch merkten sie ihm an, dass er nicht im mindesten glücklich war – als hätte er das sein sollen! Und doch war es kein spöttisches Lächeln. Es war in gewisser Weise freundlich. Er trug nicht viel Hass in sich; da war nur etwas Unbestimmtes, Widersprüchliches. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren, und trug einen schütteren Bart, die Haare so dünn wie unter seinen Achseln. Er ließ ihn wirklich nach Märtyrer aussehen, dieser Bart, zusammen mit den Geisteraugen, erst recht, wie er da an der Wand lehnte, mit leichter Hand seine Zigarette anzündete und zu Boden sah. Wie er die Reporter anlächelte: »So, Freunde, was kann ich für euch tun?«
    »Haltet mir bloß die Priester vom Leib …«, hatte er gesagt.
    Jetzt saß er in der Zelle, und die Finger fingen wieder an zu trommeln, auf der Flasche zu trommeln. Weil es aber der zweite Durchgang war und er das nun schon kannte, war es nicht mehr ganz so schön. Er musste lächeln.
    Hattest Zeit, ein Buch zu schreiben. Hättest eins schreiben sollen. Druckerschwärze auf Papier. Der erste Buchstabe jedes Kapitels herrlich ausgeschmückt. Verziert mit einer Rose, Blattwerk oder einem Mädchenknie. Hättest ein Buch schreiben sollen. Tun sie ja alle. »Verrat heißt nur … zu den Verlierern der Revolution zu gehören.« Dies ist ein kleines Land, aber ich hätte ein großes Buch schreiben können … Dies ist ein kleines Land, aber 20, nur 20 Panzer mehr, dann wäre ich jetzt in Kasseldown und Curtwright wäre hier – säße hier an einem Buch. Verdammt, sogar mit 100 Pferden …
    Aber jetzt haben sie dich herausgepickt, um diesem ruhmreichen Land in den Geschichtsbüchern einen wehrhafteren Anstrich zu geben. Denn du hast heute eine Schabe getötet und sie auch – das heißt, bei Sonnenuntergang werden sie es tun … Sieh die Kleinen, wie sie lesen, lesen, und da die Lehrerin mit ihrem langen Rohrstock und ihrer Schiefertafel, wie sie auf die farbige Landkarte zeigt. Die Schreibhefte, die dicke Tinte auf den Pulten … merkt euch, merkt euch das. Ein ganzer Schwall, ein ganzer Strom von Worten und Gedanken und Ideen … stundenlang Rede und Gegenrede, von Prüfungen, von Überliefertem, das leicht beeinflussbaren Hirnen eingetrichtert wird, damit alles beim Alten bleibt. Und jetzt singen sie, singen sie und marschieren aus den Klassenzimmern, spielen Ball und glauben … und werden größer und lesen die Zeitung und glauben … das alles, weil es auf 100 Pferde ankam, 100 Brocken Tierfleisch, gefüttert und satt; stumpfes, stumpfes Viehzeug, das den Ton der Musik macht … Curtwrights Pferde.
    Er nahm noch einen Zug aus der Flasche und fühlte sich sehr allein, aber nicht der vier nassen, arenahaften Wände wegen.
    Trotzdem … du hast es versucht. Und wenn du gesiegt hättest, wäre es das Gleiche auf der anderen Seite gewesen … Warum hast du dir die Mühe gemacht? War dir nicht klar, dass außer für die paar Auserwählten nichts einen Sinn ergibt? … Nein, es war kein Ehrgeiz – nicht dieser Art … An den Leuten lag es, ihrem leerlaufenden, kaum gelebten, angstgeplagten Leben. Das Ganze war ein Ritual des Tunichts, Riskiernichts und Lassdirnichtstun. Er hatte einfach Hunger bekommen, Hunger, etwas zu tun  … irgendetwas, um aus dem Schneckenhaus, in dem er erstickte, auszubrechen.
    Er saß in der Zelle und hielt sich die Flasche vor die Augen. Trotz des schwachen Lichts konnte er die ins Glas geprägten Worte erkennen: VERKAUF UND WIEDERVERWENDUNG DIESER FLASCHE GESETZLICH

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