Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)
zurück. Und wenn ich heute die Noten zu meinen Plattenalben sehe … ist es immer noch dunkel …«
Er lachte. Plötzlich kam er sich alt und weise vor. Er wartete darauf, dass die Nonnen etwas sagten, aber sie sagten nichts.
»Auf gute Musik kam ich, ohne es zu merken. Ich weiß nicht, wie. Auf einmal war sie da, und ich als junger Mann in San Francisco opferte jeden Cent, um den hungrigen Bauch des mannshohen hölzernen Grammophons meiner Vermieterin mit Sinfonien zu füttern. Ich glaube, das war für mich die beste Zeit überhaupt, so jung noch und die Golden Gate Bridge draußen vorm Fenster. Fast jeden Tag entdeckte ich eine neue Sinfonie … Ich suchte mir die Platten praktisch auf gut Glück aus, weil ich zu nervös und verspannt war, um sie in den Glaskabinen der irgendwie sterilen Musikläden richtig mitzubekommen … Ich habe festgestellt, dass man ein Stück, das ein paarmal leer und kalt an einem vorbeigerieselt ist … Es kommt vor, dass sich ein Stück erst später ganz dem Zuhörer erschließt …«
»Das ist wahr«, sagte Schwester Celia.
»Man hört alles so nebenbei mit einem Ohr, alles landet auf dem trägen Flimmer, in den man sich eingelullt hat, etwas schlüpft durch … und dann dringt schlängelnd, singend, tanzend die Melodie mitten ins Hirn. Die ganze Kraft der Variationen, der gegeneinander gesetzten Töne, entfaltet sich und erfüllt leicht und unbeschreiblich das Bewusstsein. Es ist ein Gefühl … als ob unzählige kleine Bienen aus Stahl in immer schönerer und intelligenterer Ordnung umeinanderschwirren … Mit einer unvermittelten Bewegung oder bemühtem Zuhören macht man das oft kaputt, und nach einiger Zeit begreift man das. Man lernt, Musik nicht kaputtzumachen. Aber genau das tu ich ja jetzt, oder?«
Die Nonnen antworteten nicht. Die Stehende bewegte sich ein wenig.
»Oder?«, wiederholte Larry.
»Wie viel möchten Sie dafür? Was verlangen Sie?«, fragte Schwester Celia.
Er sah aus dem Fenster. Jetzt war er angewidert. Es war schon wieder Jazz- und Orangenzeit, Arschwackelzeit. Er hatte zu lange gewartet. Draußen sah er eine Frau ein Bettlaken aufhängen. »Im Inserat«, sagte er ruhig, mit fester Stimme, »stand vierzig Dollar.«
Ein Kreis aus Stille bildete sich. Die Frau war mit ihrem Bettlaken fertig. In der Pension polterte jemand die Treppe hinauf.
»Aber egal«, er sah Schwester Celia an und lächelte, » ich nehme fünfunddreißig …«
Sie fuhren mit einem Taxi weg, nachdem er die Sachen runtergebracht und zwischen ihnen auf dem Rücksitz verstaut hatte. Sie hatten ein schlechtes Gewissen wegen des Taxis, meinten aber, es ginge nicht anders. Er gab ihnen recht. Sie hatten auch wegen der fünfunddreißig Dollar ein schlechtes Gewissen, aber davon sagten sie nichts …
Larry begegnete der Wirtin, als er wieder ins Haus kam. »Das ist eine gute Sache«, meinte sie.
»Was denn?«
»Für die Schule, die Mädchen.«
»Ja, klar«, sagte er, »ich habe kein Problem damit.«
Er ging die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Er setzte sich auf die Bettkante und zog seine Brieftasche heraus. Er strich mit den Fingern an den Scheinen entlang. Dann nahm er sie und legte sie nebeneinander aufs Bett. Die Scheine waren weder alt noch neu; so dazwischen. Es waren drei Zehner und ein Fünfer.
Es kam ihm sehr wenig vor.
Trace: Herausgeber schreiben
Produzieren wir mit dieser Neuauflage bewusst eine Pastille nach dem Geschmack des Publikums? Welcher Dichter tanzt schon vor dem versammelten Pöbel? Jazz und Lyrik sollten nicht Händchen halten. Jazz kann kraftvoll und anregend sein. Er mag Folklore sein und – bisweilen – künstlerisch verarbeitet werden, aber Jazz ist keine echte Kunst. Jazz ist Beat, Jazz ist Oberfläche, im Jazz klingen sexuelle Rhythmen und der Geschlechtsakt an: Jazz ist Kongo, Jazz ist gut, Jazz ist schlecht; aber all seinen Ansprüchen zum Trotz ist Jazz dünn, begrenzt und dürftig – er übernimmt Tricks von den Klassikern, ohne je dazuzulernen. Lyrik? Lyrik ist gut und schlecht und großartig – überwiegend schlecht –, und wenn sie mit Jazz ins Bett geht, kommen keine kräftigen, gesunden Kinder dabei raus.
Na schön, man hat ein Publikum. Aber ist das ein intellektuelles Publikum oder eine Meute, die auf »Kicks« aus ist? Und wer wird da gekickt? Welcher Eremit, welcher Bewohner des Elfenbeinturms würde nach ihrer Pfeife tanzen, während buchstäblich die Nereiden ertrinken? Mir scheint, ein solcher Dichter muss schon
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