Das weiße Amulett
hatte also tatsächlich funktioniert.
5
Karen sah einen braun gebrannten Rücken vor sich. Um die Hüften des Mannes schlang sich ein weißer Lendenschurz, und sein Kopf trug stolz das Königskopftuch mit der heiligen Uräus-Schlange. Der Pharao ging der Dunkelheit entgegen, begleitet von den Horussöhnen, die beschwörend murmelten:
»Schwalben wecken dich auf, der du schläfst,
sie heben dein Haupt empor zum Horizont.
Richte dich auf, damit du über das triumphierst,
was dir angetan wurde.
PTAH hat deine Feinde zu Fall gebracht,
und es soll gegen den vorgegangen werden,
der gegen dich vorging.«
Karen hob die Hand und wollte nach dem Pharao greifen, ihn an der Schulter berühren, ihn umdrehen und ihm ins Gesicht sehen, aber plötzlich waren die Figuren verschwunden, und die Dunkelheit verwandelte sich in Licht, das immer heller und greller wurde. Sie öffnete die Augen und schreckte hoch. Was war das für ein Schlafzimmer? Wo war der Pharao? Nein, sie musste geträumt haben. Sie sah an sich hinunter. Warum lag sie angezogen in diesem Bett? Doch dann erinnerte sie sich an die merkwürdigen Geschehnisse der vergangenen Nacht, an den Unbekannten an der Metrostation und an den Amerikaner, dem diese Suite gehörte.
Müde fuhr sie sich über die Augen, als die hellen Sonnenstrahlen, die sich fröhlich durch die dünnen Gardinen schlichen, sie plötzlich in Bewegung brachten. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und eilte zur Schiebetür.
Mansfield rieb sich gerade schlaftrunken die Augen, als Karen die Schlafzimmertür aufriss.
»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte er mit einem Gähnen und streckte sich.
»Wie spät ist es?«
»Danke, ich habe auch sehr gut geschlafen.«
»Um Himmels willen, wie spät ist es?«
»Tragen Sie keine Uhr?«
»Nein.«
Er schob den Ärmel zurück und sah auf seine Rolex.
»Es ist vierzehn Uhr.«
Sie erstarrte zur Salzsäule. Dann rannte sie umso schneller zu ihren Schuhen zurück und zog sich den ersten auf einem Bein hüpfend an. »O mein Gott, ich komme bestimmt zu spät.«
»Zu spät? Wohin?«
»Zum Rektor der Sorbonne. Ich habe in einer halben Stunde einen Termin bei ihm.«
»Sie haben einen Termin bei dem Rektor der Sorbonne? Sie kennen den Rektor der Sorbonne?«
Karen schlüpfte in den zweiten Schuh.
»Nein, nicht ich. Jedenfalls noch nicht. Er ist ein alter Freund meines Patenonkels. Sie haben zusammen studiert.« Karen sah auf und überlegte. »Oder sie waren zur selben Zeit auf derselben Universität, das weiß ich nicht mehr genau. Auf jeden Fall sind sie alte Jugendfreunde.« Sie schnürte die Schuhe zu.
Mansfield massierte sich seinen verspannten Nacken. Er hatte verdammt schlecht geschlafen und Albträume gehabt, in denen ein Unbekannter auf ihn schoss. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verjagen. »Darf ich Sie vielleicht begleiten?«
Sie hob den Kopf. »Ist das Ihr Ernst?«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Ich wollte mir sowieso die Sorbonne angucken. Sie würden mir also einen großen Gefallen tun.«
»Na dann kommen Sie.«
Die Nachmittagssonne blendete Mansfield, als sie die Rue de Rivoli entlangfuhren. Er klappte die Sonnenblende runter und setzte eine Sonnenbrille auf, während er sicher durch die Pariser Straßen preschte.
»Was wollen Sie eigentlich in der Sorbonne?«, fragte er, als ein Rotlicht ihn wieder zum Halten zwang.
»Ich recherchiere.«
»Aha. Und wofür?«
»Für eine Monographie.«
»Ach ja, Sie sind Schriftstellerin, nicht wahr?«
»Sachbuchautorin würde ich eher sagen. Ich bin freie Mitarbeiterin in einem kleinen Verlag in Hamburg. Ab und zu erscheinen auch Artikel in Zeitungen, aber diesmal bin ich im Auftrag meines Verlags hier. Es geht um einen Professor der Sorbonne, der vor hundert Jahren spurlos verschwand.«
Mansfield pfiff anerkennend durch die Zähne. »Vor hundert Jahren? Das könnte kompliziert werden, oder?«
»Schon möglich. Und es wird bestimmt noch komplizierter, wenn ich den Termin mit dem Rektor verpasse.«
»Keine Angst, das schaffen wir schon. Die Sache mit dem verschwundenen Professor hört sich irgendwie nach einem Kriminalfall an.« Mansfield bog rechts in die Rue de la Cité Notre-Dame ein.
Karen nickte. »Stimmt, aber ich will den Fall nicht aufklären, sondern einfach nur sein Leben rekonstruieren und darüber ein Buch schreiben.«
»Kann man davon leben?«
»Nein. Ich übersetze manchmal auch noch Fachbücher.« Sie sah die Häuserfassaden vorbeigleiten. »Man wird
Weitere Kostenlose Bücher