Das weiße Amulett
sprühte es dem Fremden ins Gesicht.
Mit lautem Jaulen wandte er sich ab und rannte in die Dunkelheit, während Karen ihm mit weichen Knien nachschaute. Dann hörte sie ein leises Geräusch auf der Treppe und ging zu dem Mann mit der braunen Lederjacke. Kurz bevor sie ihn erreichte, sah sie einen kleinen weißen Gegenstand herumrollen, der dort eben noch nicht gelegen hatte. Es schien ein steinernes Röhrchen zu sein, doch hatte Karen keine Zeit, um es näher zu untersuchen. Sie bückte sich danach und steckte es schnell ein. Dann ging sie zu dem Mann mit der braunen Lederjacke und half ihm auf.
»Damned«, fluchte dieser und betrachtete den roten Fleck auf seinem blauen T-Shirt und der Jacke. Dann warf er Karen schnell einen einschätzenden Blick zu.
»Sind Sie verletzt?«, fragte er auf Französisch.
»Nein, ich bin okay«, antwortete sie auf Englisch und wollte seine Jacke hochheben, um sich seine Wunde genauer anzusehen, doch er riss sie ihr unwirsch aus der Hand.
»Ist die Wunde tief?«, fragte sie besorgt.
»Nein, es geht schon«, sagte er kurzatmig. Der Schnitt brannte in seiner Seite.
Sie runzelte die Stirn. »Das sollte sich besser ein Arzt anschauen.«
»Danke, es geht schon«, wiederholte er etwas lauter.
»Heben Sie mal die Arme.«
Er stand leicht vornübergebeugt, an die weiße Kachel-wand der Metro gelehnt, und starrte sie fassungslos an. »Sie machen Witze!«
»Nein. Na los, machen Sie schon. Heben Sie die Arme.«
»Das kann ich nicht, verdammt.«
»Na also, Sie brauchen doch einen Arzt!«
Der Mann biss sich auf die Lippe. »Sind Sie Krankenschwester?«
»Nein. Dann hätte ich das vielleicht selber machen können, aber so, wie es aussieht, werden Sie zu einem Arzt gehen.«
Im Halbdunkel der Metrolampen blickte er in ihr entschlossenes Gesicht. »Haben Sie einen Wagen?«
»Nein, habe ich nicht.«
Er lächelte überlegen.
»Hören Sie, ich werde nicht von Ihrer Seite weichen, ehe Sie die Verletzung nicht einem Arzt gezeigt haben.«
»Sie meinen das wirklich ernst?«
»Aber sicher.«
Ihre Hartnäckigkeit amüsierte ihn. »Also gut«, gab er mit einem leichten Grinsen nach. Er wollte sich nicht mit ihr streiten. »Mein Wagen steht dort drüben.« Er deutete auf einen BMW am Straßenrand, der im matten Lampenlicht silbern schimmerte. Mit einem kurzen Ruck stieß der Mann sich von der Kachelwand ab.
»Soll ich nicht lieber fahren?«, fragte Karen, als der Mann sich kurze Zeit später mit einem leisen Stöhnen hinters Lenkrad setzte. Er wollte gerade antworten, aber sie kam ihm zuvor. »Nein danke, es geht schon«, sagte sie in tiefem Ton und versuchte seine ernste Mimik nachzuahmen.
Der Mann nickte und legte den Rückwärtsgang ein. »Sie lernen sehr schnell. Wie heißen Sie eigentlich?«
»Karen. Karen Alexander. Und Sie?«
»Michael Mansfield. Nett, Sie kennen zu lernen, Karen.« Er verzog das Gesicht, als er eine falsche Bewegung machte. »Kennen Sie zufällig den Weg zum nächsten Krankenhaus?«
Sie sah aus dem Auto und versuchte eines der beleuchteten Straßenschilder zu lesen. »Nein, leider nicht.«
Mansfield bog auf eine doppelspurige Straße ein.
»Na großartig.«
3
Im Hospital Saint-Raphael stellte man fest, dass die Schnittwunde nicht tief, aber lang war. Der Dienst habende Arzt besah sich die Verletzung und entschied sich gegen das Nähen der Wunde.
»Ein Pflaster und ein Verband werden genügen«, meinte er und desinfizierte den Schnitt, ehe er geschickt ein längliches Pflaster auf die Wunde gab und einen strammen Verband um den breiten Oberkörper seines Patienten legte.
Karen beobachtete die Prozedur vom Flur aus durch ein großes Sichtfenster und sah einen schönen Oberkörper mit breiten Schultern und starken Armen. Plötzlich räusperte sich jemand neben ihr und riss sie aus ihren Gedanken.
»Pardon. Sind Sie Madame Alexandre?«
Karen wandte den Kopf und sah einen älteren dicklichen Mann mit listigen Knopfaugen neben sich, der sie mit einem leichten Grinsen musterte. Von der Statur her war er ein wenig größer als Karen, und mit seinem Alter hätte er ihr Vater sein können. Anscheinend hatte er bereits längere Zeit hinter ihr gestanden und gesehen, was sie im Behandlungszimmer so sehr interessierte.
»Ich bin Kommissar Laurent vom Raub- und Morddezernat, fünftes Arrondissement. Das Krankenhaus hat uns informiert, dass es eine Messerattacke auf Ihren Mann gegeben hat. Ich würde Ihnen deswegen gern einige Fragen stellen.«
Sie blinzelte ihn müde
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