Das weiße Grab
nicht?«
»Sie haben ja bestimmt bemerkt, dass ich ein Jahr älter als die anderen bin.«
Pauline Berg nickte, wobei sie das ganz und gar nicht bemerkt hatte. Andererseits wusste sie aus ihrer Zeit als Neunzehnjährige, wie viel Bedeutung ein Jahr mehr oder weniger hatte.
»Ich muss mich für dieses Abi wirklich abrackern, die anderen sind echt besser als ich. Das ist einfach so. Wenn die eine Viertelstunde lernen müssen, brauche ich eine Stunde, und obwohl ich mich angestrengt habe, musste ich das letzte Jahr wiederholen. Ich kann jetzt nicht über längere Zeit von der Schule wegbleiben, sonst komme ich nicht mit. So klug bin ich nicht.«
»Sie wirken sehr zielbewusst. Wissen Sie, was Sie mal werden wollen?«
»Ärztin, und das schaffe ich auch, irgendwann.«
»Das glaube ich Ihnen. Aber sagen Sie mir eins. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, sich die Haare kurz zu schneiden? Das würde Ihnen bestimmt stehen.«
Jeanette Hvidt begutachtete Pauline Bergs Haare und antwortete nüchtern: »Ihnen auch.«
»Okay, dann schneiden wir uns beide die Haare kurz. Ich suche uns einen schrillen Friseur in Kopenhagen, und Sie sind natürlich eingeladen.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil.«
Sie warf ihre Haare über die linke Schulter und entblößte ihr Ohr. Es war missgestaltet und sah aus wie auf halbe Größe zusammengeschrumpelt.
»Ich spare für eine Operation, aber die ist teuer. Außerdem muss ich es im Ausland machen lassen, also in England oder Deutschland, so dass noch der Aufenthalt dazukommt.«
»Mein Gott, so schlimm ist das doch nicht.«
»Hm, das meinen Sie nicht im Ernst.«
»Es geht doch nicht nur darum, schön zu sein.«
Jeanette Hvidts Reaktion war überraschend aggressiv: »Glauben Sie wirklich, dass ich dieses Ohr zur Schau stellen will? Spinnen Sie eigentlich?«
Pauline Berg ignorierte die Beleidigung, ließ das Thema Haareschneiden aber fallen. Stattdessen versuchte sie sich an einer Alternative: »Sehen wir mal von Ihrem Äußeren ab, gibt es einen Ort, wo Sie hinkönnten?«
»Ja. Und entschuldigen Sie, dass ich so ausfallend geworden bin, aber ich hatte in meiner Kindheit ein paar hässliche Erlebnisse. Aber da können Sie ja nichts dafür.«
Pauline Berg legte eine Hand auf den Arm des Mädchens.
»Ist schon in Ordnung. Wohin könnten Sie denn gehen?«
»Nach Helsingør, da wohnt mein Onkel, er lässt mich sicher eine Weile bei sich wohnen.«
Pauline überschlug alles kurz in ihrem Kopf und kam zu dem Ergebnis, dass diese Lösung sowohl aus sicherheitstechnischen wie aus ökonomischen Gründen die beste war. Weigerte das Mädchen sich, ihr Zuhause zu verlassen, wäre die Polizei gezwungen, ihr Personenschutz zu geben, und eine solche Maßnahme war ungeheuer kostspielig.
»In Helsingør gibt es auch Gymnasien«, sagte sie. »Wir können uns um all das Praktische kümmern. Außerdem verspreche ich Ihnen eine kompetente Nachhilfe, um Ihnen den Übergang zu erleichtern. Sagen wir, bis Sie das Abi bestanden haben, egal, ob Sie zurückkommen oder nicht. Was meinen Sie dazu?«
In Wahrheit hatte Pauline keine Ahnung, ob ihr Vorschlag umsetzbar war, aber ihre Vernunft sagte ihr, dass der Staat bei dieser Maßnahme viel Geld sparte und dieses noch dazu besser angelegt war. Jeanette Hvidt schüttelte ihren hübschen Kopf.
»Das alles ist schon verdammt merkwürdig, wie ein böser Traum.«
»Ja, ich verstehe Ihre Gefühle, aber was sagen Sie zu Helsingør?«
»Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen. Was ist mit meiner Fächerkombination? Außerdem habe ich dann ja neue Lehrer, ganz zu schweigen von meinen Klassenkameraden.«
Pauline Berg fluchte innerlich, die Sache wäre deutlich leichter, wenn das Mädchen freiwillig in ein Programm einwilligte.
»Wir können nachweisen, dass auf Andreas Falkenborgs Computer ein Bild von Ihnen war, und er hat Ihr Interview im Internet gelesen.«
Sie reagierte, wie Pauline Berg es gehofft und befürchtet hatte.
»Verdammte Scheiße!«
»Ja, das ist wirklich Mist. Und bedeutet, dass er Sie tatsächlich auf dem Kieker hat.«
»Diese bescheuerten Reporter. Ich wollte erst gar nichts sagen, aber die waren so hartnäckig. Wobei das jetzt auch keine Rolle mehr spielt. Gibt es sonst noch etwas? Ich will jetzt wirklich alles wissen.«
»Als wir ihn verhört haben, redete er von
dieser Brut, die ständig neue schreckliche Wesen
erschafft. Wir glauben, dass er damit Ihre Großmutter und Sie
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