Das weiße Grab
doch mit dem gleichen negativen Resultat. Dann zuckte er mit den Schultern, überließ Pauline Berg die Initiative und setzte sich wartend auf die Pritsche. Andreas Falkenborg reagierte wie ein verängstigtes Tier, als Asger Graa plötzlich nicht mehr zwischen ihnen stand. Er floh in die abgelegenste Ecke seiner Zelle und kauerte sich am Boden zusammen. Sie trat einen Schritt zurück und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, wohlwissend, dass die Situation jederzeit außer Kontrolle geraten konnte. Aus seiner zusammengekauerten Stellung verfolgte der Mann wachsam jede ihrer Bewegungen, aber die größere Distanz gab ihm Sicherheit. Er schloss den Mund, und die Angst wich einem anderen Gefühl, das sich immer deutlicher seines Gesichts bemächtigte, bis aus seinen Augen der blanke Hass sprühte.
»Andreas, du hast Annie ermordet. Sag mir, warum!«
Er antwortete nicht, aber damit hatte sie gerechnet. Nur sein keuchender Atem war zu hören.
»Soll ich näher kommen?«
Die Drohung traf ihn beinahe physisch, er zuckte mit dem Kopf zurück und sah flehend zu Asger Graa auf, der sagte: »Sie sollten ihr lieber antworten.«
Andreas Falkenborg sagte halb stammelnd, halb fauchend:
»Sie, sie … sie darf nicht hier … sein.«
»Mann, dann sagen Sie doch, was Sie getan haben, dann geht sie ja wieder. So schwer kann das doch nicht sein.«
»Ja, erzähl mir von Annie. Dann gehe ich wieder.«
Zum ersten Mal wich er ihrem Blick aus und starrte vor sich auf den Boden. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, aber kurz darauf sagte er, zu Asger Graa gewandt: »Annie war wie sie, sie ist bei mir eingedrungen, was sollte ich tun?«
»Es interessiert mich nicht, was du hättest tun sollen, sondern was du getan hast«, antwortete sie ihm hart.
»Sie umgebracht, das wissen Sie doch. Sie hatte es verdient, und das hast du auch, du Hexe.«
»Passen Sie auf, was Sie sagen«, warnte ihn Asger Graa.
»Ich hasse sie.«
»Erzählen Sie von dem Mord, wie sie es verlangt.«
»Ich habe darauf gewartet, dass Annie mit ihrem Fahrrad vorbeikam. Es war dunkel. Dann habe ich sie mir geschnappt und in die Tüte gesteckt.«
Angst, Hass, Trotz, es war schwer zu sagen, welches dieser Gefühle Andreas Falkenborg dominierte. Sein kurzes, abgehacktes Geständnis war nicht zu gebrauchen. Das wussten beide Polizisten und erkannten, dass der darauffolgende bösartige Satz die reinste Provokation war: »Das war wunderbar, und jetzt ist sie für immer weg.«
Ruhig, als hätte sie alle Zeit der Welt, nahm Pauline Berg einen Handspiegel heraus und musterte kritisch ihr Spiegelbild, ohne sich auch nur im Geringsten an den beiden Männern zu stören. Danach holte sie einen leuchtend roten Lippenstift hervor, nahm die Kappe ab, drehte ihn langsam heraus und hielt ihn ins Licht. Sie hörte Andreas Falkenborgs Atem stocken, widerstand aber der Versuchung, ihn anzusehen. Stattdessen nahm sie sich die Zeit, ihre Lippen zu schminken.
»Du weißt genau, was du mir sagen sollst. Dein ganzes Gerede kannst du dir sparen. Also, was passierte dann?«
Während sie auf seine Reaktion wartete, schminkte sie weiter ihre Lippen, und als keine Antwort kam, sagte sie: »Jetzt komm schon, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Wo hast du Annie getötet, und vor allem, wo hast du sie begraben? Und pass auf, dass du jetzt wirklich alles sagst, kleiner Andreas, sonst kann es passieren, dass ich zu dir komme und dir einen Kuss gebe.«
»Das darf sie nicht, das ertrage ich nicht. Sie darf so etwas nicht sagen.«
Dieses Mal war Pauline Berg schneller: »Ich warte, Andreas – aber ich warte nicht lange.«
»Ja, ich tue ja, was Sie sagen, aber Sie bleiben, wo Sie sind.«
»Wo hast du Annie umgebracht?«
»Auf der Terrasse von meinem Ferienhaus. Ich schwöre es.«
»Und ihr Fahrrad?«
»Stand am Bahnhof von Næstved. Ich habe es einfach in den Fahrradständer gestellt.«
»Und wo hast du sie beerdigt?«
»Aber so war es nicht.«
Pauline Berg sah ihn nun wieder an und erkannte, wie er litt. Beiläufig wie zuvor legte sie ihre Sachen zurück in die Handtasche und trat drohend einen Schritt vor.
»Doch Andreas, so war es. Und ich will wissen, wo.«
Ein weiterer Schritt.
»Wo, Andreas, sag es mir!«
Es war Asger Graa, der ihr antwortete.
»Also, ich glaube, er kann nicht mehr, sieh ihn dir doch an, er zittert und ist ganz … ganz …«
Andreas Falkenborg zitterte unkontrolliert und verdrehte die Augen, während er im nächsten Moment wieder ganz klar wirkte. Er
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