Das weiße Grab
wieder unten bin, wickelst du eine Locke von meinen Haaren um deinen Finger und hältst sie so fest, wie du nur kannst. Du darfst aber nur wenige Haare nehmen. Wenn du sie zu fassen bekommen hast, sagst du Bescheid, ja?«
»Ja, wenn du willst.«
Sie führten die Übung aus, und Jeanette Hvidt sagte: »Jetzt habe ich eine Strähne.«
Pauline Berg ruckte ihren Kopf mit aller Kraft nach oben. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Kopfhaut und verriet ihr, dass sie Erfolg gehabt hatte. Obwohl sie sich innerlich darauf vorbereitet hatte, jammerte sie laut.
»Was ist passiert? Habe ich dir die Haare ausgerissen? Oh, Gott, nein, das wollte ich nicht.«
»Ja, das hast du. Und genau das war beabsichtigt. Und jetzt du, beug dich nach links in Richtung meiner Hand, du musst so weit runter wie nur möglich.«
»Und warum sollte ich das tun?«
Pauline Berg erzählte ihr von ihrer Großmutter und Andreas Falkenborgs psychologischem Profil, wobei sie ein bisschen hinzudichtete.
»Das ist unsere einzige Chance. Wenn wir uns die Haare ausgerissen haben, oder wenigstens teilweise, lässt er uns in Frieden. Dann sind wir für ihn nicht mehr interessant«, erklärte sie.
»Du willst dir die Haare ausreißen? Alle?«
»So viele wie nur möglich.«
»Hat es weh getan?«
»Ein bisschen. Eigentlich nicht der Rede wert.«
»Das glaube ich dir nicht, du hast geschrien.«
»Nur weil es das erste Mal war. Außerdem können wir es nach und nach machen, wir haben genug Zeit, bis er zurückkommt.«
»Aber er wird sicher wütend, wenn er das sieht. Dann kriegen wir beide den Stock zu spüren. Ganz oft, ich will das nicht.«
»Willst du lieber in die Tüte?«
Jeanette Hvidt begann wieder zu schniefen, sagte aber kurz darauf: »Okay, ich probier’s.«
Pauline Berg hörte, wie das Mädchen sich mit aller Macht nach vorne beugte. Sie selbst streckte die Finger aus, soweit es die Handschellen zuließen, aber all ihre Anstrengungen nutzten nichts. Jeanette Hvidt versuchte es immer wieder. Sie folgte Paulines Ratschlägen, probierte es in den unterschiedlichsten Positionen, aber alle Bemühungen blieben erfolglos. Zum Schluss gaben sie auf, Jeanette Hvidt war einfach nicht gelenkig genug.
»Jeanette, du musst mir die Haare ausreißen, für dich finden wir eine andere Lösung.«
»Nein.«
»Ich flehe dich an, ich befehle es dir. Du hast gar keine andere Wahl.«
»Wieso das denn? Ich tue es nicht. Du hältst mich wohl für blöd, oder? Dann bringt er doch mich um statt dich. Ich will nicht sterben, nur damit du leben kannst.«
»Ich habe doch gesagt, dass wir für dich eine andere Lösung finden.«
»Und wie soll die aussehen? Das will ich erst wissen.«
Pauline Berg beugte sich zu ihr und biss dem Mädchen hart in den Oberarm. Sie schrie vor Schmerzen.
»Spinnst du, au, verdammt, das hat richtig weh getan. Warum hast du das gemacht? Ich habe dir doch nichts getan.«
»Würdest du jetzt bitte anfangen. Und keine weiteren Diskussionen!«
»Ich will nicht, du verrückte Hexe. Hoffentlich grillt er dich mit seinem Stock.«
Jetzt biss Pauline Berg zweimal zu, beim ersten Mal, so fest sie konnte. Jeanette Hvidt heulte vor Angst und Schmerzen.
»Los jetzt, oder ich reiße dir ein Stück aus dem Oberarm, damit du endlich einsiehst, dass ich es ernst meine.«
Viermal wurde Jeanette Hvidt gebissen, bevor sie klein beigab und tat, was ihr befohlen worden war. Strähne für Strähne verschwand von Pauline Bergs Kopf, und schon bald spürte sie das Blut über ihre Wange und die Seite ihres Halses fließen. Die Schmerzen waren unerträglich, bis sie irgendwann nichts mehr spürte, als ginge sie das alles nichts mehr an. Nach einiger Zeit sagte Jeanette weinend: »Jetzt sind keine mehr da, ich kann keine mehr greifen, aber bitte beiß mich nicht wieder.«
Pauline Berg antwortete ihr nicht. Auf ihrer linken Kopfseite hatte sie noch immer Haare, das spürte sie, und so richtete sie sich auf dem Stuhl auf, drehte den Kopf und scheuerte sich wie wild an der rauhen Bunkerwand. Die Schmerzen kamen zurück und wurden unerträglich, so dass ihr jammerndes Stöhnen immer lauter wurde. Trotzdem machte sie weiter, immer weiter.
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I rgendwann in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch fiel Konrad Simonsen auf seinem Schreibtischstuhl in einen unruhigen Schlaf. Er hatte sich die Schuhe ausgezogen, die Beine auf den Tisch gelegt und nutzte seine Jacke als Decke. Um fünf Uhr morgens wurde er vom Klingeln des Telefons geweckt. Ein Beamter sagte
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