Das weiße Grab
machte dies deutlich, die er abends immer zwischen Rahmen und Tür steckte. Für wie dumm hielten sie ihn eigentlich? Er war zweiundvierzig Jahre alt und war seit fast zwanzig Jahren bei der Polizei, das war beinahe die Hälfte seines Lebens. Trotzdem behandelten sie ihn wie einen Pfadfinderjungen, ja, als wäre er ein Amateur. Seine Pistole war weg, aber er brauchte sie nicht, sie behinderte ihn nur. Das schmale Fahrtenmesser aus der Schreibtischschublade und ein Polizei-Schlagstock reichten vollkommen aus. Diese Idioten!
Am Donnerstagnachmittag hatte seine Frau ihm frische Kleidung gebracht. Sie plauderten eine Weile miteinander, doch als die Themen Zwillinge und Wetter erschöpft waren, wurden die Pausen immer länger. Zum Abschied fragte sie ihn noch, ob er denn auch daran denke, genug zu essen. Dann küsste sie ihn und ging. Diese Routine wurde immer eingehalten, sie war ein Automatismus, wie wenn man nach links und rechts schaute, bevor man eine Straße überquerte. Als er wieder allein in seinem Büro war, wurde ihm mehr als jemals zuvor bewusst, wie sehr sie sich auseinandergelebt hatten, es fühlte sich mittlerweile so an, als lebten sie in zwei verschiedenen Welten. Aber über die Kleidung freute er sich. Wenn er verhaftet wurde, wollte er respektabel aussehen. Gut angezogen, frisch gewaschen und rasiert. Heruntergekommene Häftlinge hatten ihn immer gestört; er hatte mit ihnen zu leben gelernt – das musste er wohl –, aber innerlich hatte er sie immer verachtet, und er selbst wollte kein Teil dieser Gruppe werden.
Der Alarm seines Handys weckte ihn um zwei Uhr in der Nacht, und er brauchte zehn Minuten, um den Schlaf abzuschütteln, wobei ihm ein paar selbst erfundene Gymnastikübungen halfen. Die Japaner schliefen auf Schilfmatten auf dem Boden, das hatte er gelesen. Diese Menschen waren hart im Nehmen, andererseits war es zweifelsohne praktisch, sein Bett einfach aufrollen und in eine Ecke stellen zu können. Japan, Australien, China, Brasilien – er hatte sich immer eine große Reise gewünscht, aber sein Leben war anders verlaufen. Immer hatte es etwas Wichtigeres gegeben. Er starrte durch das Fenster in die Nacht und dachte, dass seine Reise wohl noch ein paar Jahre warten musste. Dann schlich er sich auf Socken auf den Flur und vorbei an Konrad Simonsens Büro. Durch den Spalt unter der Tür sickerte Licht. Das Herz des Morddezernats, so war dieser Raum einmal getauft worden, von wem, wusste er nicht. Voller Verachtung tat er so, als spucke er gegen die geschlossene Tür, bevor er in die nächste Toilette schlüpfte und sich vorbereitete.
Es vergingen Monate zwischen den wenigen Augenblicken, in denen die Comtesse die Kontrolle über ihre Gefühle verlor und zu fluchen begann, doch wenn dies geschah, hatte sie sogleich jedermanns Aufmerksamkeit. Jedermann waren in diesem Fall Konrad Simonsen und der Chef des PET . Sie saßen in Simonsens Büro, hellwach, fast wie unter dem Einfluss von Speed, und gingen das für den nächsten Tag geplante Theaterstück durch, das einfach nicht schiefgehen
durfte.
Der PET -Chef ritt richtiggehend darauf herum.
Es gibt keinen Plan B, wir haben nur diese eine Chance.
Oder in variierter Form:
Wenn das morgen nicht klappt, klappt es nie
– wobei er noch eine Reihe anderer Äußerungen von sich gab. Es entstand recht bald der Eindruck, als mache es ihm Spaß, auf diesem Thema herumzureiten.
Das Handy der Comtesse brummte, und sie warf beiläufig einen Blick darauf, platzte dann aber panisch hervor:
»Verdammte Scheiße. Arne ist abgehauen!«
Konrad Simonsen sprang von seinem Stuhl auf, der nach hinten kippte.
»Du willst damit doch wohl nicht sagen … Wo ist er? Woher weißt du das?«
»Sein Handy. Ich kriege automatisch eine SMS , wenn er sich mehr als zweihundert Meter vom HS entfernt. Frag mich nicht, wie das geht.«
Der PET -Chef reagierte ruhiger.
»Er hat sich erst zweihundert Meter entfernt?«
»Ja, ungefähr.«
»Bleiben Sie ruhig. Dann haben wir noch viel Zeit.«
Konrad Simonsen folgte der Aufforderung. Er stellte seinen Stuhl wieder hin, etwas verlegen wegen seiner Reaktion. Dann fragte er die Comtesse: »Vielleicht braucht er bloß ein bisschen frische Luft? Wissen wir überhaupt, wohin er will?«
»Hör auf, dich dumm zu stellen.«
»Ist er bewaffnet?«
»Kaum, seine Pistole habe ich.«
Er sah zu dem PET -Chef.
»Ich gehe davon aus, dass Ihre Leute ihn aufhalten, bevor etwas schiefgeht?«
Der PET -Chef bestätigte das, unternahm aber
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