Das weiße Grab
kannst du ihn dann mit der Zunge nach draußen schieben, du darfst nicht aufgeben, verstehst du?«
Sie hatte Schwierigkeiten, die Antwort zu verstehen.
»Denk dran, dass du Medizin studieren willst. Du wirst sicher eine gute Ärztin.«
Endlich hörte sie, wie Jeanette Hvidt den Lappen langsam bearbeitete, wie sie selbst es getan hatte. Das Geräusch beruhigte sie, bis sich ein anderes Geräusch bemerkbar machte – ein kratzender, langgestreckter Ton, der ihr die Tränen in die Augen trieb, ohne dass sie wusste, warum. Sie konzentrierte sich darauf, sich nicht zu erinnern, und wiederholte die Aufforderung wieder und wieder, bevor sie Wochentage, Monate, Planeten zu zählen begann – einfach um ihr Hirn abzulenken, bis das Dunkel plötzlich zerrissen wurde und sie Andreas Falkenborg sah, der mit einem Abziehbrett den feuchten Beton über Jeanette Hvidts Grab glattzog, bis er sich auf einer Höhe mit dem Bunkerboden befand.
Andere grausame Geräusche und schreckliche Bilder drängten sich ihr auf, und sie hörte ihre Schreie dumpf verzerrt zwischen den Mauern verhallen, als wollten sie ihr ihre Hoffnungslosigkeit noch einmal auf schonungslose Weise klarmachen. Verzweifelt zerrte und riss sie an ihren Fesseln, bis die Müdigkeit ihre Schreie in ein leises, ohnmächtiges Schluchzen verwandelte und sie nach Mama und Papa rief. Irgendwann wurde dann wieder das Dunkel ihr Freund, und in einem kurzen, klaren Augenblick erkannte sie, dass die Stunden, die ihr noch blieben, gezählt waren. Trotzdem schien diese Erkenntnis sie nicht wirklich zu berühren. Sie entschuldigte sich für ihr panisches Verhalten bei der Frau, die nicht mehr neben ihr saß, und fiel in einen unruhigen Schlaf.
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58
D ie Geschehnisse der letzten Tage waren an Arne Pedersen vorbeigegangen. Er lief durch das Präsidium, hörte den Gesprächen zu, die er hören wollte, doch niemand rechnete mit ihm oder beteiligte ihn an irgendeiner Schlussfolgerung. Es hatte sich schnell verbreitet, dass er nicht mehr arbeiten konnte, und überall, wo er auftauchte, wurde er freundlich und fürsorglich behandelt, während man gleichzeitig so tat, als wäre er nicht da. Er hatte keinen Versuch unternommen, diesen Zustand zu ändern. Am ersten Tag nach Paulines Entführung war es ihm sehr schlechtgegangen, und er war für die Ermittlungsarbeit unbrauchbar gewesen. Viele seiner Kollegen rieten ihm, nach Hause zu gehen, was er aber hartnäckig ablehnte. Er wollte bei den anderen sein, bis alles überstanden war, alles andere wäre unerträglich. Da niemand wirklich die Zeit hatte, sich um ihn zu kümmern, ließ man ihn in Ruhe. Wie eine Schnake, die irgendwo an der Wand hockte, dachte er.
Zu seiner großen Überraschung konnte er schlafen. Der Alptraum mit seiner Mutter, der Hexe und schließlich Pauline Berg, die mit einer Plastiktüte ermordet wurde, blieb aus. Vielleicht weil der Ausgang dieses Traums jetzt zu einem möglichen, reellen Drama geworden war und die Wirklichkeit seinen Traum damit überholt hatte. Er kannte den Grund nicht, es war ihm aber auch egal. Er konnte schlafen, wie auch immer das zu erklären war, und das war das Wichtigste. Kaum dass er sich auf den Boden seines Büros legte, schlief er wie ein Kind, so dass er irgendwann der ausgeruhteste aller Ermittler war, auf jeden Fall im Morddezernat. Der Gedanke gefiel ihm, er behielt ihn aber für sich und verhielt sich unauffällig. Aber vielleicht war es gerade der Schlaf, der ihm Stück für Stück half, wieder zu sich zu finden und sich unter Kontrolle zu bekommen.
Konrad Simonsen war nicht entgangen, dass es ihm besserging. Sie hatten gemeinsam zu Mittag gegessen, oder besser gesagt, am gleichen Tisch in der Kantine gesessen, nicht aber über den Fall geredet.
»Es scheint dir wieder besserzugehen, Arne.«
»Das ist wirklich gut, das freut mich,« ergänzte die Comtesse.
Er nickte kurz und konzentrierte sich auf sein Essen. Was sollte er antworten? Dass Konrad Simonsen, ja, dass sie beide vollkommen fertig wirkten und sich nicht einmal um ihren jämmerlichen Zustand zu kümmern schienen?
Jemand hatte ihm zur Sicherheit seine Autoschlüssel abgenommen, und ihm war auch klar, dass er beobachtet wurde. Das war kaum zu übersehen; all die etwas zu langen Blicke, das Beobachten aus den Augenwinkeln und dass immer wieder jemand in sein Büro kam, um sich zu erkundigen, wie es ihm ging. Sogar wenn er schlief, das hatte er längst bemerkt. Die regelmäßig am Boden liegende Büroklammer
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