Das weiße Grab
Professorin im Haus sei. Wo genau, konnte sie ihr allerdings nicht sagen. Das Uni-Gebäude lag in der Njalsgade, im Viertel Islands Brygge, was kaum mehr als einen Kilometer vom Präsidium entfernt und damit gut zu Fuß zu erreichen war. Die Comtesse nutzte die Gelegenheit, das Sommerwetter zu genießen und sich auf diese Weise selbst zu beweisen, dass sie wieder die Kraft hatte, nach draußen zu gehen, wem auch immer sie dabei begegnen mochte.
Die Stadt zeigte sich von ihrer freundlichen Seite, und sie genoss den Spaziergang, bis eine entgegenkommende Frau mit einem Kinderwagen sie doch dazu brachte, der Straße den Rücken zuzukehren und sich auf ein Schaufenster zu konzentrieren, bis sie vorüber war. Eines der Räder quietschte, was sie richtiggehend ärgerlich machte. Es konnte doch nicht so schwer sein, ein bisschen Öl auf die Nabe zu träufeln, damit andere Menschen nicht gestört wurden. Das Spiegelbild, das sie im Schaufenster sah, gefiel ihr nicht. Es war kantig, voller Falten und bald fünfzig. Dass sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen hatte, war jetzt bald zwei Jahre her. Damals war sie auf eine Konfirmation eingeladen gewesen und hatte nicht absagen können, obwohl auch ihr Ex-Mann und seine Lebensgefährtin dort waren. Um nicht allein auf dem Fest auftauchen zu müssen, hatte sie einen Schauspieler engagiert und später diesen Mann dafür bezahlt, dass er eine Woche Ferien mit ihr machte. Im Nachhinein war sie nicht sonderlich stolz darauf gewesen, wenn sie die Nächte auch noch immer in sehr guter Erinnerung hatte. Die Tage hingegen waren katastrophal gewesen, denn dieser Mann hatte sich als ebenso egomanisch wie dumm erwiesen. Jetzt hatte sie wieder einen Mann – auf jeden Fall im Haus. Der Rest konnte ja vielleicht noch kommen. Sie drehte sich um, blickte in alle Richtungen und ging weiter.
Allinna Holmsgaard war eine würdige Erscheinung: Sie war groß, etwa Mitte vierzig, aber noch immer hübsch. Die wenigen Fältchen standen ihr, das Auffälligste aber war, wie grazil sie sich vor der Tafel bewegte, an der sie gestikulierend etwas notierte. Die Comtesse war vorsichtig in den Seminarraum geschlüpft, in dem ihre Zeugin unterrichtete, und bekam nun ein paar Minuten Gratisunterricht und die Gelegenheit, Dozentin und Studenten ausgiebig zu beobachten. Nur fünf Menschen besuchten das Seminar, ausnahmslos jüngere Frauen, die in der ersten Reihe saßen und sich Notizen auf ihren Laptops machten. Sie erkannte eine bekannte Fernsehmoderatorin und eine Politikerin.
Als Allinna Holmsgaard ihren Gast bemerkte, unterbrach sie den Unterricht und ging auf die Comtesse zu, die sich kurz vorstellte. Die Professorin musterte sie von Kopf bis Fuß und sagte dann: »Haben Sie einen Ausweis?«
Die Comtesse zeigte ihr ihren Polizeiausweis. Allinna Holmsgaard studierte ihn genau und entschuldigte sich dann: »Es tut mir leid, aber ich hatte einen Moment lang den Verdacht, dass Sie von der Presse sind. Es haben mich schon einige Reporter angerufen, die ich nur mit Mühe abschütteln konnte.«
»Das ist schon in Ordnung, ich hätte mich gleich ausweisen sollen.«
Die Frau zeigte Verständnis.
»Ich denke, es geht um Maryann?«
»Ja, genau. Wenn Sie Zeit haben.«
»Es dauert nur noch einen Moment. Wie ist es denn mit Ihnen, haben Sie es eilig?«
»Nicht besonders.«
»Kennen Sie das Kulturzentrum unten am Hafen?«
»Ja, ziemlich gut.«
»Sollen wir uns da unten treffen, wenn ich hier fertig bin? Es wird, wie gesagt, nicht mehr lange dauern. Bei diesem Wetter kann man doch nicht drinnen sitzen.«
Gut eine halbe Stunde später saßen die beiden Frauen im Gasværkshafen und blickten über die Kalvebod Brygge, deren massive Bauten sich verzerrt und im Sonnenlicht glitzernd im Wasser spiegelten. Hin und wieder tuckerte eines der breiten Hafenrundfahrtsschiffe vorbei. Die beiden winkten lächelnd den Touristen zu, die sie in ihren Scrapbooks verewigten, während das Schulenglisch des Touristenführers ihr Gespräch unterbrach. Vom ersten Augenblick an stimmte die Chemie zwischen den beiden Frauen, das war schon deutlich geworden, als sie an der Bar gestanden hatten und Getränke bestellen wollten. Beide hatten bedauert, dass es für einen Weißwein ja eigentlich noch zu früh sei, dann aber trotzdem einen bestellt. Sie sprachen über Architektur, ein für den Ort beinahe nicht zu vermeidendes Thema, und hätten sicher stundenlang über alles Mögliche reden können, wäre die Situation eine andere
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