Das weiße Grab
immer irgendwelche Geschichten, um die Zeit totzuschlagen.«
Sie goss sich einen Schluck Wasser in ihr leeres Glas ein und trank es.
»Tja, aber dann fand Maryann etwa drei, vier Wochen nach seiner Abreise heraus, dass sie schwanger war. Eine Abtreibung kam für sie nicht in Frage. Sie hatte schon einmal einen Fötus entfernen lassen und war darüber psychisch beinahe zusammengebrochen. Also schrieb sie dem Kindsvater einen Brief. Sie hatte zwar keine Adresse, glaubte aber, seinen Namen zu kennen, weshalb sie den Brief an die GGU adressierte, wo man ihn, wie er selbst gesagt hatte, kannte.«
» GGU ?«
»Grönländische Geologische Untersuchungen, eine Forschungsgruppe, die dem damaligen Grönlandministerium unterstand. Die Abteilung saß gemeinsam mit den anderen geologischen Institutionen in der Øster Voldgade. Heute hat sie mit der dänischen Schwesterorganisation fusioniert. Nun, der Brief kam aber als unzustellbar zurück. Niemand kannte Steen Hansen. Maryann war ein paar Tage lang am Boden zerstört, kam dann aber auf die Idee, dem
Base Commander
in Thule zu schreiben. Normalerweise tat man so etwas nicht, aber was sollte sie sonst machen? Sie legte ihre Situation offen dar und bat darum, den Brief wenn möglich an Steen Hansen weiterzuleiten. In dem Brief war auch ein Foto von ihm, wenn auch ein nicht sonderlich gelungener Schnappschuss, aber ihre Hartnäckigkeit führte tatsächlich zum Erfolg, denn zwei Wochen später rief er sie an. Er sagte ihr, er sei verheiratet und habe Kinder. Natürlich war das blöd, aber immerhin hat er so viel Rückgrat gezeigt, sie anzurufen.«
»Warum wollte sie Ihnen seinen richtigen Namen nicht nennen?«
»Keine Ahnung. Sie wollte es einfach nicht. Ich weiß noch, dass mich das richtig ärgerlich gemacht hat. Wir haben uns sogar deswegen gestritten, aber sie blieb bei ihrer Entscheidung. Und dann war sie plötzlich weg. Danach habe ich ein wahnsinnig schlechtes Gewissen bekommen, denn vielleicht war sie ja absichtlich verschwunden. Sie verstehen schon.«
Die Comtesse verstand gut.
»Trotzdem habe ich lange gehofft, dass sie wieder zurückkommt. Irgendwie passte das alles nicht zusammen, denn so deprimiert war sie nicht gewesen. Sie war ein bisschen verschlossen, aber richtig schlimm war es nicht. Zwei Tage vor ihrer Tour ins Inlandeis habe ich mit ihr noch über Kinderkleider und Babysachen geredet. Das ist eigentlich alles, was ich erzählen wollte. Ich weiß selbst, dass Ihnen das kaum weiterhelfen wird.«
»Hm, wer weiß. Wie sah dieser falsche Steen Hansen denn aus?«
»Ziemlich gewöhnlich. Er war blond, hatte extrem kurze Haare, war nicht sonderlich groß und etwa Anfang dreißig, aber ich kann mich nicht wirklich an ihn erinnern. Ich habe aber auch nur wenig mit ihm geredet.«
»Besondere Kennzeichen?«
»Nicht, dass ich wüsste, abgesehen von den Haaren, er war wirklich der einzige dänische Mann mit so kurzen Haaren. Damals hatten ja alle lange Haare, Minimum bis über die Ohren. Und … ach ja … eine Sache war da noch. Jetzt erinnere ich mich, er sprach ungewöhnlich hoch, fast wie ein Mädchen, ich glaube, man nennt das Fistelstimme. Einige bezeichneten ihn auch als Kastraten … ja wirklich … das war eine Art Spitzname. Jeder kriegte damals so einen Namen verpasst, auch wenn er nur ein paar Tage da war, und …«
Einen Moment vernahm die Comtesse kaum noch die Worte der Professorin. Nie zuvor hatte sie es erlebt, dass eine Zeugin ihr zweimal innerhalb einer Minute Informationen gegeben hatte, die sie fast umgehauen hätten. Dieses Mal unterdrückte sie aber ihre Reaktion und ermahnte sich, dass ihre Assoziation recht vage war und noch bestätigt werden musste, was sehr schwer werden dürfte. Sie konzentrierte sich wieder auf das Gespräch: »Wissen Sie sonst noch etwas über ihn?«
»Tja, er hat ihr seine Mütze geschenkt, aber das ist sicher nicht von großer Bedeutung.«
»Erzählen Sie einfach.«
Sie kniff kurz die Augen zusammen.
»Also, er hatte so eine Strickmütze mit Lilien in allen nur erdenklichen Farben, die sich umeinander wanden. Er hat behauptet, seine Mutter hätte die für ihn gestrickt, aber das stimmte sicherlich auch nicht, denn auf der Innenseite war ein Etikett. Maryann hat sich trotzdem total in diese Mütze verliebt, weshalb er sie ihr geschenkt hat.«
»Als Erinnerung?«
»Ja, vielleicht. Sie hat sich auf jeden Fall sehr darüber gefreut. Ich fand sie ziemlich hässlich, viel zu bunt. Ich weiß noch, dass sie einmal
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