Das weiße Grab
gewesen. Das spürten sie beide. Irgendwann riss die Comtesse sich zusammen und kam auf den Fall zu sprechen: »Sie und Maryann Nygaard waren befreundet, als Sie in Grönland waren?«
»Das waren wir, ja. Eng befreundet, und ihr Tod, oder besser gesagt ihr Verschwinden, hat mich damals hart getroffen, schließlich wussten wir alle, was das zu bedeuten hatte. Trotzdem habe ich damals wider aller Vernunft gehofft, dass sie noch lebendig gefunden werden würde.«
»Dann hatten Sie damals nicht den Verdacht, dass sie Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte?«
»Nein, ganz und gar nicht. Es war wie ein Schock für mich, als ich das gelesen habe, und ich bin noch immer total aufgewühlt. Es ist so abscheulich, daran zu denken, aber ich kann nicht anders.«
»Ja, die Sache ist wirklich schrecklich. Sie haben gemailt, dass Sie Informationen haben, die für uns von Interesse sein könnten. Was sind das für Informationen?«
Allinna Holmsgaard trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Ihre Nägel waren kurz geschnitten, dennoch fühlte die Comtesse sich dadurch gestört.
»Als ich die Mail geschrieben habe, meinte ich das, ja. Aber nachdem ich noch einmal alles durchdacht habe, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das wirklich von Bedeutung ist.«
»Überlassen Sie diese Entscheidung doch mir.«
»Also, wie Sie ja wissen, war Maryann schwanger, als sie … verschwand.«
Erst am Morgen hatte die Comtesse aus dem Obduktionsbericht von der Schwangerschaft erfahren. Es hatte sie verblüfft und neue Fragen aufgeworfen. Sie sagte: »Das wissen wir, es hat uns aber ein bisschen verwundert.«
»Warum?«
Sie hätte sich die Zunge abbeißen können. Allinna Holmsgaard hätte nichts von dem Tampon in der Scheide ihrer ermordeten Freundin zu erfahren brauchen, doch jetzt kam sie kaum noch um diese Information herum. Vergeblich versuchte die Comtesse ein Ausweichmanöver: »So kommen wir nicht weiter. Ich denke, es ist besser, wenn ich die Fragen stelle und Sie sie beantworten. Sagen Sie mir …«
Der Satz blieb in der Luft hängen, denn die Professorin hatte den Zusammenhang erraten. Ihre Finger hielten inne, und sie sagte traurig: »Maryanns Schwangerschaft verlief nicht normal. Sie hatte immer wieder Blutungen. Man hat sie damals sogar nach Holsteinsborg geflogen, um sie eingehender zu untersuchen, aber es schien trotzdem alles in Ordnung zu sein. Sie hatte ihre Menstruation, als sie starb, nicht wahr?«
»Ja, genau. Kennen Sie den Vater des Kindes?«
»Nein, leider nicht. Ich dachte, dass genau dieser Punkt für Sie interessant sein könnte. Sehen Sie, das Ganze war ziemlich geheimnisvoll, das reinste Detektivspiel, doch als Maryann den Namen endlich kannte, wollte sie damit nicht herausrücken.«
»Vielleicht sollten Sie von vorne anfangen?«
»Ja, natürlich. Maryann ist etwa zehn Wochen vor ihrem Verschwinden schwanger geworden. Das Kind war von einem Geologen, der vier Tage auf der Basis gewartet und auf besseres Wetter gehofft hat, bevor er weiter nach Thule fliegen konnte. Sie haben sich ineinander verliebt, richtiggehend Hals über Kopf, genau wie in einem Liebesroman. So war das jedenfalls für Maryann, wie das bei ihm war, weiß ich nicht. Er hat vorgegeben, Steen Hansen zu heißen, aber das war eine Lüge …«
Der Name traf die Comtesse wie ein Hammerschlag. Ihr Unterkiefer sackte nach unten und dann ihr Glas, so dass der Stiel abbrach und der letzte Rest Weißwein auf den Tisch spritzte.
»Stimmt etwas nicht? Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Allinna Holmsgaard besorgt.
Sie riss sich zusammen. Mit aller Kraft versuchte sie, die trockene Frauenstimme zu verdrängen, die ihr plötzlich durch den Hinterkopf schallte.
Halten Sie an Steen Hansen fest, Baronesse. Halten Sie an Steen Hansen fest, Baronesse.
Schon am Telefon waren ihr diese Worte unangenehm gewesen, jetzt waren sie fast unerträglich.
»Nein, es ist nichts, reden Sie weiter.«
»Also, dass der Name falsch war, habe ich erst später herausbekommen, es gab aber auch noch ein paar andere seltsame Dinge. Da passte einiges nicht zusammen. Ich erinnere mich noch daran, dass wir Frauen darüber gesprochen haben, dass wir nie zuvor einen derart gut gekleideten Geologen gesehen haben. Sonst sahen die immer ganz anders aus. Außerdem war es erstaunlich, dass die Amerikaner nur für ihn ein Flugzeug bereitstellten, als es wieder aufklarte. Wir stellten uns damals einige Fragen, haben uns danach aber nicht weiter damit beschäftigt. Es kursierten
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