Das weiße Grab
Erfahrung, Menschen zu lesen, oder sein bereits gegebenes Einverständnis, dass die Comtesse ein paar Tage auf eigene Faust operieren durfte, die ihn erwog, seine Meinung noch einmal zu ändern: »Verstehe ich dich richtig, dass du da gerne noch ein bisschen graben würdest?«
Sollte seine Intuition sie überrascht haben, zeigte sie es nicht.
»Wirkliche Argumente habe ich dafür nicht, es gibt aber einen Zeugen, der mir erzählt hat, dass Maryann Nygaard in den letzten zwei, drei Wochen vor ihrem Tod irgendwie verändert war. Unter anderem soll sie an keinen Partys oder Zusammenkünften mehr teilgenommen haben, was für sie wohl ganz untypisch war. Ich bin deshalb neugierig geworden, aber wie gesagt, vermutlich können wir das nicht nutzen.«
»Wie willst du das näher untersuchen? Hast du eine Quelle?«
»Es kann sein, dass ich eine Freundin von ihr gefunden habe, aber das weiß ich erst morgen.«
»Okay, bleib noch ein paar Tage dran und sieh zu, was du rauskriegst, aber wir sollten uns auch auf ein paar entscheidende Daten konzentrieren. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Andreas Falkenborg Maryann Nygaard zum ersten Mal in dem Altenheim gesehen hat, in dem seine Mutter war. Nygaard hat dort als Schwester gearbeitet. Das kann nur im Januar oder Februar 1982 gewesen sein. Erst am 13 . September 1983 , also gut anderthalb Jahre später, ermordet er sie, nachdem er sie bis nach Grönland verfolgt hat. Auch bei Catherine Thomsen zeigt sich ein ebenso unangenehmes Muster. Sie treffen sich zufällig im Juni 1996 , und er ermordet sie etwa acht Monate später. Vermutlich nachdem er sich mit einem Riesenaufwand die Fingerabdrücke ihres Vaters auf einer Plastiktüte gesichert hatte, die …«
Weiter kam Konrad Simonsen nicht, denn plötzlich stand Pauline Berg kreidebleich in der Tür, die sie, ohne zu klopfen, aufgerissen hatte. In der Hand hielt sie die Fotografie einer jungen Frau – einer jungen Frau, die wie Maryann Nygaard oder Catherine Thomsen aussah.
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10
A m Ende des Arbeitstages lud Konrad Simonsen alle auf ein Bier ein, was nicht jeden Tag vorkam und deshalb sehr geschätzt wurde.
Sie gingen in die Kneipe schräg gegenüber der Glyptothek, die fast ausschließlich von Polizisten besucht wurde. Die Comtesse, Arne Pedersen und Poul Troulsen setzten sich zu ihrem Chef an den Tisch. Die anderen Kollegen verteilten sich an den anderen Tischen, prosteten ihnen aber hin und wieder zu. Das Lokal war zur Hälfte gefüllt, die Stimmung entspannt und ruhig. Aus der hinteren Ecke schallte leise alte Schlagermusik herüber, und auch der aufmerksame Kellner, der mit seinem Lächeln alles und jeden anstecken konnte, passte zu der Feierabendstimmung.
Kurz darauf gesellte sich auch Pauline Berg zu ihnen. Sie hatte noch etwas in der Stadt zu erledigen gehabt und hielt eine Tüte des Kaufhauses Illum in der Hand, die sie trotz der neugierigen Blicke der Comtesse schnell unter ihren Stuhl schob. Alle prosteten sich mit Bier zu, und Konrad Simonsen sagte ein paar vorhersehbare Worte über die gute Zusammenarbeit, ohne dass ihm wirklich jemand zuhörte. Danach gingen die Gespräche munter weiter. Am engagiertesten unterhielten sich die beiden Frauen, die schnell den Ton angaben und den Männern gerade noch genug Raum für einige vage Regieanweisungen ließen.
Arne Pedersen durchbrach ihre Dominanz, als Pauline Berg endlich einmal Luft holen musste, und setzte sich über das unausgesprochene Prinzip hinweg, niemals Ermittlungsarbeit und soziale Anlässe zu vermischen: »Ich möchte wirklich wissen, ob der noch mehr auf dem Gewissen hat! Vielleicht ist das bis jetzt ja nur die Spitze des Eisbergs.«
Poul Troulsen griff die Bemerkung sofort auf.
»Das können wirklich viele sein. Unsere eigenen Vermisstenmeldungen geben ja nur einen vagen Anhaltspunkt. Vielleicht sind auch Touristen unter den Opfern, Leute, die nie wieder nach Hause gekommen sind. Außerdem kann er auch gemordet haben, als er selbst im Urlaub war, ganz zu schweigen davon, dass junge, dunkelhaarige Frauen möglicherweise nur eine seiner Vorlieben sind. Vielleicht mag er auch rothaarige Jungs – das wissen wir alles ja noch nicht. Ich hoffe nur, dass du das nicht aus den Augen lässt, Konrad, bis wir ihn endlich einsacken können.«
»Ich habe die Ressourcen im Einsatz, die mir zugestanden worden sind«, erwiderte Konrad Simonsen etwas mürrisch.
»Das sollten in diesem Fall aber eigentlich ein paar mehr Leute sein als sonst. Wegen mir kannst
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