Das weiße Krokodil
Schachtel gespannt war. »Sicherlich habt ihr schon geglaubt, ich hätte euch vergessen.«
Er sprach mit den Hühnern, als seien sie Kinder, seine Gedanken jedoch gingen andere Wege, da ihn die allmählich in den Dschungel zurückkehrende Ruhe, die nur noch gelegentlich vom Schrei eines Tieres unterbrochen wurde, an sein Gelöbnis erinnerte und ihn beglückt denken ließ: Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen; ich bin allein mit der Sehnsucht meines Herzens.
Hätte er in diesem Augenblick nicht gerade das Netz abgestreift, würde er sich gewiß niedergekniet haben, um dem Himmel mit einem Gebet zu danken. So aber sah er sich unversehens vor die Frage gestellt, wie er die Hennen vor Raubtieren schützen könne. Keinesfalls durfte er sie frei umherlaufen lassen. In seiner Ratlosigkeit faßte er den Entschluß, sie an die Leine zu legen.
Doch wo sollte er diese an ihnen befestigen? An ihren Beinen? Das erschien ihm zu grausam, da die Hühner die Schnur nicht spüren konnten, was zur Folge haben mußte, daß ihr angebundenes Bein beim Laufen jäh zurückgehalten wurde, wodurch sie zwangsläufig ihr Gleichgewicht verlieren und stolpern mußten. Wenn er ihnen einen gewissen Auslauf gewähren und Ungemach ersparen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie am Hals anzuleinen. Und das tat er mit so viel Geschick, daß sie nicht die geringste Unruhe zeigten.
Später aber, als er mit den wie Hunde an der Leine geführten Hennen, denen er einer plötzlichen Eingebung folgend die Namen ›Tang‹ und ›Ting‹ gegeben hatte, über die Steintreppe zur Pagode emporstieg, bedauerte er es lebhaft, sich nicht selbst sehen zu können.
Oben angekommen, befestigte er die Schnüre an einem Strauch, und nachdem er den Hühnern geraten hatte, sich tüchtig des Futters zu bedienen, das in reichlichem Maße zwischen den üppig wuchernden Farnen zu finden sei, näherte er sich der Pagode, vor deren Eingang er die Hände faltete und eine Weile in andächtigem Gebet verharrte. Anschließend wandte er sich nach links, so daß das Bauwerk rechts von ihm lag und er es im Uhrzeigersinn, dem segensreichen Lauf der Sonne folgend, auf einem schmalen Pfad umschreiten konnte, den er sich von Yen-sun und dessen Kameraden für sakrale Umgänge hatte frei machen lassen. Sein Antlitz nahm dabei einen verklärten Ausdruck an, und während er die Pagode bedächtig umwanderte, versicherte er dem Allmächtigen, immer bestrebt zu sein, sich der ihm zuteil gewordenen Gnade würdig zu erweisen.
Ein unendliches Glücksgefühl durchströmte ihn, als er zum Eingang der Pagode zurückkehrte. Er war größtenteils von Lianen verdeckt, die er um keinen Preis hatte entfernen lassen wollen, weil er vermutete, daß Vögel und sonstiges Getier in ihnen nisteten.
Der herabfallende Pflanzenvorhang verbarg ein im Rundbogen geformtes, mit chinesischen Ornamenten verziertes Portal, das furchterregende Tempelwächter flankierten, die, den Donnerkeil schwingend, Dämonen vertreiben und die Tempelhalle schützen sollten. In ihrer Mitte standen vier vergoldete und jeweils in eine andere Himmelsrichtung blickende Statuen. Es waren die Standbilder Buddhas und seiner drei Vorgänger in dieser Weltenzeit. Ihre sanften und in die Ferne gerichteten Augen verliehen dem Raum eine überraschende Weite und Würde.
Tie-tie, der die Pagode zuvor schon mit Yen-sun aufgesucht und dafür gesorgt hatte, daß weder Käfern noch Spinnen ein Leid geschah, war erneut von der Ehrfurcht gebietenden Gestaltung des Tempels ergriffen. Unfaßlich erschien es ihm, daß das herrliche Bauwerk von einem Mann geschaffen worden war, der keinen anderen Gedanken gekannt hatte, als sein Vermögen der Nachwelt zu entziehen.
Wie arm muß er gewesen sein und wie reich hätte er werden können, wenn er diese Pagode aus anderen Gründen errichtet haben würde, dachte Tie-tie, während er sich gesenkten Hauptes dem aus Sandelholz geschnitzten Buddha näherte, der im Hintergrund des Tempels im Nirwana -Zustanddargestellt war.
Der Kopf des halb auf der Seite liegenden Erhabenen ruhte auf einem stilisierten Kissen. Seine Augen waren geschlossen, und seine unter einem langen Gewand herausragenden Füße, deren Sohlen in Perlmutter ausgelegt waren, entsprachen den Abdrücken der beiden vor der Statue im Steinboden sichtbaren mystischen Fußspuren, die symbolhaft zum Ausdruck brachten, daß der Erleuchtete der Erde seinen heiligen Willen eingeprägt hat.
Die Wand hinter der in göttlicher Ruhe schlafenden
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