Das weiße Mädchen
teuer.«
»Fünfzig Euro die Nacht«, erklärte Zirner, bemerkte, dass Lea zögerte, und setzte schließlich galant hinzu: »Da Sie allein kommen … Sagen wir: vierzig.«
»Einverstanden«, entschied Lea.
Zirner strahlte. »Wunderbar. Wie lange dürfen wir Ihnen denn Quartier gewähren?«
»Ich bin noch nicht sicher. Eigentlich dachte ich an eine Woche …« Sie ging langsam durch den Raum, musterte die hellen Möbel, die Küchenzeile und die vom Sonnenlicht gleißende Terrasse.
»Kein Problem«, meinte Zirner. »Wir haben keine Voranmeldungen. Es verirrt sich leider nicht oft jemand hierher.«
Lächelnd drehte sich Lea zu ihm um. »Dann scheinen die Leute nicht zu wissen, was ihnen entgeht.«
Zirner erwiderte ihr Lächeln. »Der Hausschlüssel liegt dort auf dem Tisch. Unten an der Hauptstraße gibt es einen kleinen Supermarkt. Dort können Sie einkaufen. Was wir leider zurzeit nicht haben, ist ein Telefon. Der Anschluss muss erst repariert werden.«
Lea zuckte die Achseln. »Kein Problem, ich habe ein Handy.«
»Wenn Sie irgendetwas brauchen, klingeln Sie ruhig bei uns.« Zirner wies auf einen Klingelknopf neben der Tür. »Und seien Sie geduldig, wenn nicht sofort jemand kommt … Sie müssen wissen: Ich bin hier selbst nur zu Besuch. Das Haus gehört meinem Onkel. Er ist gesundheitlich etwas angeschlagen und nicht mehr so rasch zu Fuß, besonders, wenn es ums Treppensteigen geht.«
»Alles klar.« Lea stellte ihre Reisetasche ab. »Sie sind also nicht aus Verchow?«
»Nein, ich war bisher nur ein paarmal hier, um mich um Haus und Garten zu kümmern – und natürlich um die Feriengäste«, erklärte Kai Zirner bereitwillig. »Ich wohne in Uelzen.«
»Aber ihr Onkel lebt schon lange hier?«
»Seit mehr als vierzig Jahren.«
»Dann kann er mir vielleicht helfen«, meinte Lea, »vo rausgesetzt , es wäre in Ordnung, ihn zu stören. Selbstverständlich will ich mich nicht aufdrängen.«
»Worum geht es denn?«
»Ich bin Journalistin«, antwortete Lea unumwunden. »Aber keine Sorge, ich habe Urlaub und bin aus privatem Interesse hier. Ich habe von den Geschichten gehört, die man sich über das weiße Mädchen erzählt.«
Zirner legte den Kopf schief, fast wie ein Vogel, der etwas Unbekanntes in Augenschein nimmt. »Das weiße Mädchen?«
»Sie haben nie davon gehört?«
»Wie gesagt, ich bin nur selten in Verchow. Was ist denn das für eine Geschichte?«
»Autofahrer erzählen, sie hätten an der Landstraße den Geist eines vor Jahren verschwundenen Mädchens gesehen.«
Ihr Gastgeber lachte erstaunt. »Den
Geist? «
»Es ist sicher nur eine Sage«, erklärte Lea und bemühte sich um einen selbstironischen Ton. »Und selbstverständlich glaube ich nicht an Geister. Trotzdem interessiert mich dieses Gerücht; es ist ja sozusagen ein Stück lokaler Mythologie. Man könnte es in einen Reisebericht über das Wendland einbauen: romantische Landschaft mit verwilderten Märchenschlössern und stilecht spukender Prinzessin.«
»Verstehe. Vielleicht sollten Sie tatsächlich einmal mit meinem Onkel sprechen. Er kennt diese Geschichte sicher.«
»Wenn es keine Umstände macht …«
»Oh, gar nicht«, beeilte Zirner sich zu versichern. »Am besten kommen Sie gleich mit. Dann mache ich Sie miteinander bekannt.«
In seiner galanten Art hielt er die Wohnungstür auf, komplementierte Lea durch den Hausflur und eine Treppe hinauf. Das obere Stockwerk des Hauses stellte sich als ebenso gediegen und gepflegt heraus wie die Ferienwohnung. Die Treppe mündete in einen weiteren Flur, der nur mit einem reich verzierten Spiegel und einer Holzkommode möbliert war. Kai Zirner ging voraus und klopfte an eine Tür.
»Rudi? Wir haben einen Feriengast. Darf ich dir die Dame vorstellen?«
»Komm herein!«, antwortete eine Stimme.
Kai öffnete die Tür und trat gemeinsam mit Lea in einen herrlich eingerichteten Raum. Rustikale Holzmöbelstanden entlang der Wände und unter der Dachschräge, die von senkrechten Fachwerkpfeilern getragen wurde. Eine breite Glasfront führte zu einem Balkon. Sämtliche Fensterbänke und auch der schwere Eichentisch in der Mitte des Raums waren mit Vasen voll blühender Rosen geschmückt.
Ein älterer Mann erhob sich von der Couch neben dem Tisch. Lea schätzte ihn auf etwa siebzig. Beim Aufstehen wirkte er gebrechlich, als er jedoch auf Lea zuging, wurde sein Schritt zunehmend sicher. Sein Händedruck war unerwartet kraftvoll, nicht unähnlich dem seines Neffen.
»Freut
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