Das weiße Mädchen
als Maler, Bildhauer, Schriftsteller oder sonst was bezeichnen, weil sie Angst vor dem Eingeständnis haben, dass sie in Wahrheit für überhaupt keinen Beruf taugen. Die allerschlimmsten nennen sich ›Lebenskünstler‹ – was in der Regel so viel heißt wie mittelloser Versager. Das Wendland ist voll von solchen Leuten, wie Sie noch feststellen werden.«
»Aha …«, sagte Lea vorsichtig, um das Thema nicht zu vertiefen. Sie hatte in ihrem Leben schon viele ältere Männer interviewt und wusste, dass die meisten über ein Lieblingsschimpfthema verfügten, wie sie es nannte. Manche wetterten bei jeder Gelegenheit über die Regierung, manche über die Jugend von heute, wieder andere über die Medien.
»Es heißt«, fuhr Zirner fort, »dass Martin Herforth dieKatzennärrin ihres Geldes wegen heiratete – gut möglich, wenn Sie mich fragen. Die beiden hatten nur ein Kind: ebenjene Christine, die spurlos verschwand. Martin Herforth übrigens hat sich wenige Tage später in der Scheune des Gutshofs erhängt.«
Lea pfiff durch die Zähne. »Eine dramatische Geschichte … Die Tochter verschwindet, der Vater nimmt sich das Leben, die Mutter landet in einem Pflegeheim. Haben die Herforths noch Angehörige in der Gegend?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Noch einmal zurück zu Christine Herforth: Sie bezeichneten das Mädchen als seltsam, obwohl Sie sie nur vom Sehen kannten. Was meinten Sie damit?«
»Man brauchte sie nicht näher zu kennen, um zu wissen, dass etwas mit ihr nicht stimmte.« Zirner verzog die Lippen. »Stets lief sie in pechschwarzer Kleidung herum, von Kopf bis Fuß. Sie war wohl eine Art Punk, oder wie immer man das nennt. Am besten reden Sie mit Herrn Winkelmann. Er war damals Lehrer, und soweit ich weiß, kannte er sie als Schülerin.«
»Gerhard Winkelmann, nicht wahr?«, erinnerte sich Lea und notierte den Namen.
Rudolf Zirner beobachtete sie kopfschüttelnd. »Wollen Sie sich wirklich Ihren Urlaub mit dieser Geschichte verderben? Was interessiert Sie daran?«
»Ich weiß es selbst nicht genau«, gab Lea zu. »Journa listischer Instinkt vielleicht. Ich werde mich auf jeden Fall im Dorf umhören.«
»Na dann, viel Spaß!« Zirner lächelte sarkastisch. »Und vergessen Sie Hedwig Heller nicht, die Geisterseherin mit dem Kunstgewerbeladen.«
Lea schrieb auch diesen Namen auf und schloss ihr Notizbuch. »Nun will ich Ihnen nicht länger Ihre Zeit stehlen, Herr Zirner. Vielen Dank für die Auskünfte.«
Sie erhob sich, und der alte Mann tat es ihr gleich.
»Ich wünsche Ihnen trotzdem eine schöne Zeit in meinem Haus!«, sagte er und streckte ihr ein zweites Mal die Hand entgegen. »Wenn Sie irgendetwas brauchen, klingeln Sie einfach.«
»Danke.«
Kai Zirner schloss sich Lea ungefragt an, als sie die Treppe hinunterging und die Tür der Ferienwohnung öffnete. Sie spürte deutlich seinen Blick im Rücken.
»Interessante Sache, die Sie da verfolgen«, sagte er, offenbar in dem Bedürfnis, ein weiteres Gespräch anzubahnen. »Ich wusste nichts von alldem. Mein Onkel hat es nie zuvor erwähnt.«
»Es ist ja auch lange her.« Lea schickte sich an, die Tür zu schließen. »Sicher sehen wir uns noch«, sagte sie, um taktvoll zu signalisieren, dass sie allein sein wollte.
»Äh – ja.« Kai lächelte beinahe schuldbewusst und trat zurück. »Schönen Tag noch!«
»Ihnen auch«, erwiderte Lea und schloss die Tür.
Meine Güte, der ist aber anhänglich
, dachte sie, als sie ins Wohnzimmer ging, um ihre Reisetasche auszupacken.
Könnte es sein, dass ich ihm gefalle?
Einen Augenblick lang stand sie an der Glasfront zur Terrasse, blickte in den Garten hinaus und genoss das Gefühl, die Aufmerksamkeit eines derart attraktiven Mannes erregt zu haben.
Ach übrigens
, sagte eine innere Stimme, die sich stets einschaltete, wenn ihre Gedanken um Männer kreisten,
bestimmt hat er eine Frau und zwei Kinder
.
Na und
?
, gab Lea zurück.
Ich will ja auch gar nichts von ihm. Ich freue mich nur, dass mich mal jemand mit diesem gewissen Blick ansieht … Kein Grund zur Aufregung.
Zwiegespräche dieser Art blieben meist fruchtlos, und so beschloss Lea, sich auf etwas anderes zu konzentrierenund umgehend mit ihren Nachforschungen zu beginnen. Sie machte sich notdürftig frisch, überflog noch einmal ihre Notizen und verließ wenig später das Haus, um den Weg zur Dorfstraße einzuschlagen.
Lea brauchte nicht lange zu suchen, um Gerhard Winkelmann zu finden: Er stand im Garten seines
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