Das weiße Mädchen
morgen.
Sonntag
Am Sonntagmorgen gegen neun Uhr saß Lea am Steuer ihres roten Fiesta und zuckelte in gemächlichem Tempo über die Landstraße Richtung Dannenberg. Ihre Stimmung hatte sich gegenüber dem Vortag merklich gehoben. Es war eine gute Idee gewesen, ins Wendland zu fahren – ganz unabhängig von der anonymen E-Mail , der sie die Idee verdankte. Noch nie war sie in diesem Teil des Landes gewesen und hatte nicht geahnt, dass sich kaum fünfzig Kilometer westlich ihrer Heimatstadt ein Paradies ausbreitete. Sie hatte kaum Gepäck bei sich und weder eine Reservierung noch irgendeinen Plan, doch schien ihr dies auch nicht erforderlich. Allein die wunderschöne Landschaft lohnte einen Tagesausflug, selbst wenn sie keine Bleibe fände und am Nachmittag umkehren müsste. Die Landstraße war fast leer, und die wenigen Autos, die ihr entgegenkamen, fuhren kaum achtzig. Niemand hier draußen schien es eilig zu haben. Die Abstände zwischen den Ortschaften wurden immer größer, während die Straße sich durch malerische Waldgebiete und zwischen Rapsfeldern hindurchwand, die leuchtend gelb blühten.
Lea nahm kaum wahr, dass sie bereits eine Dreiviertelstunde hinter dem Steuer saß, als sie Dannenberg erreichte.
Keine zehntausend Einwohner
, schätzte sie, während sie den Ort durchquerte, dessen Innenstadt sich entlangeiner einzigen Straße ausbreitete. Nur wenige moderne Gebäude prägten das Stadtbild. Stattdessen sah Lea zahllose Fachwerkhäuser mit verwinkelten Erkern. Ladeluken unter den Giebeln zeugten davon, dass die Obergeschosse einst als Getreidespeicher gedient hatten. Unweit der Hauptstraße kam der einzige erhaltene Turm einer mittelalterlichen Burg in Sicht.
Ganz in die Betrachtung dieser beschaulichen Kleinstadt vertieft, verpasste Lea beinahe ihre Abfahrt.
»Nach weiteren hundert Metern rechts abbiegen«, mahnte der elektronische Navigator.
Lea bog auf die Straße Richtung Groß Heide ein. Die Landschaft ringsum wurde noch einsamer, geradezu wild. Kilometerweit führte die Straße über Land, ohne dass ein einziges Haus auftauchte. Bauminseln durchsetzten die Felder und verdichteten sich allmählich zu größeren, zusammenhängenden Waldgebieten. Fast war es eine Überraschung, als die nächste Ortschaft auftauchte, bestehend aus wenigen Häusern, unter denen sich immerhin ein Restaurant und eine Apotheke befanden.
Wie im Wilden Westen
, dachte Lea schmunzelnd.
Ob es wohl einen Briefkasten gibt – oder kommt hier nur einmal im Monat die Postkutsche vorbei?
»Nach weiteren hundert Metern links abbiegen.«
Lea kam der Anweisung nach. Die Seitenstraße tauchte in den tiefen Schatten eines Kiefernwaldes ein, dessen hohe Wipfel das Licht dämpften. Man sah ihr an, dass sie kaum benutzt wurde: Der Asphalt war von Schlaglöchern übersät, und der schmale Radweg rechts der Fahrbahn verlor sich nach wenigen Metern im Gebüsch. Gestrüpp wucherte bis zum Straßenrand und umschlang die verblichenen Leitpfosten. Kein einziges Fahrzeug kam Lea entgegen, kein PKW, kein Traktor, nicht einmal ein Radfahrer.
Ob dies die Straße ist, von der bei »Ghost-Trusters« die Rede war?
, fragte sie sich. Die Atmosphäre war selbst im Tageslicht ein wenig unheimlich, wie geschaffen für ein Geistermärchen.
»Oh Gott!«
Erschrocken riss Lea das Steuer herum und trat auf die Bremse. Der Fiesta schlingerte einen Moment mit quietschenden Reifen, während keine zehn Meter vor ihr etwas Großes und Dunkles quer über die Straße fegte. Der massige Körper, getragen von kurzen, aber kräftigen Beinen, verschwand mit einem Satz im Unterholz auf der linken Straßenseite.
Ein Wildschwein
, erkannte Lea, während sie mit dem Lenkrad kämpfte.
Unglaublich: Ein Wildschwein, so groß wie ein Mensch, rennt am helllichten Tag quer über die Straße!
Im Schritttempo fuhr sie weiter, eine Hand auf ihr klopfendes Herz gelegt. Ihr Fuß auf dem Gaspedal zitterte.
Das ist ja wirklich wie im Wilden Westen. Fehlt nur noch, dass eine Büffelherde den Weg kreuzt. Wahrscheinlich haben die Einheimischen Kuhfänger an ihren Autos, wie bei den alten Dampfloks.
Sie musste lachen, und allmählich senkte sich ihr Adrenalinspiegel wieder.
VERCHOW stand auf dem Ortsschild, das Lea wenige Minuten später passierte. Der Ort lag mitten im Wald und war so klein, dass sie beinahe überrascht war, eine Tankstelle und einen kleinen Supermarkt vorzufinden. Beide Gebäude lagen an der Landstraße, von der im rechten Winkel ein Zufahrtsweg
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