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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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nachdenklich den Mund, »…   dreiundzwanzig – nein, warten Sie: vierundzwanzig Jahre her.«
    »Das war also   …«, rechnete Lea rasch.
    »1986«, kam Zirner ihr zuvor, »im Mai, soweit ich mich erinnere. Das Mädchen hieß Christine Herforth und war sechzehn Jahre alt. Ihre Familie lebte auf einem alten Gutshof an der Landstraße nach Groß Heide, etwa zwei Kilometer vom Dorf entfernt.«
    »Ich habe auf dem Weg hierher kein einziges Haus gesehen«, bemerkte Lea.
    »Das Haus ist von der Straße aus nicht zu sehen«, erklärte Zirner. »Die Auffahrt ist sehr lang und ziemlich zugewachsen, seit der Hof leer steht. Wahrscheinlich sind Sie daran vorbeigefahren, ohne es zu bemerken.«
    »Und dieses Mädchen   – Christine Herforth – ist einfach spurlos verschwunden?«
    »So schien es zumindest. Es gab eine tagelange Suchaktion. Die Polizei in Lüchow wurde eingeschaltet und durchkämmte die Wälder mit Spürhunden. Es stand in allen lokalen Zeitungen, und selbst an meinem Arbeitsplatz kamen mir ein paar Gerüchte zu Ohren.«
    »Darf ich fragen, wo Sie tätig waren?«
    »In der Stadtverwaltung. Bauaufsichtsbehörde. Aber ich bin schon seit langem pensioniert   …« Er lächelte fast entschuldigend. »Mein Herz macht nicht mehr so mit wie früher. Vielleicht fällt mir sogar noch der Name des Beamten ein, der damals die Ermittlungen leitete   …«
    »Das wäre wunderbar.« Lea blickte ihn erwartungsvoll an. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
    »Dreesen.« Zirner nickte bedächtig vor sich hin. »Doch, ich bin sicher: Kriminalrat Dreesen. Aber das ist vierundzwanzig Jahre her – wer weiß, ob er noch im Dienst ist.«
    »Ich werde es herausfinden«, versprach Lea und notierte den Namen. »Kannten Sie Christine Herforth?«
    »Nicht persönlich«, sagte Zirner. »Aber natürlich vom Sehen. Die Herforths ließen sich nur selten im Dorf blicken, eigentlich nur zum Einkaufen – in dem kleinen Supermarkt unten an der Hauptstraße, den Sie sicher gesehen haben.«
    »Christine war sechzehn, sagten Sie?«
    »So hieß es zumindest in der Zeitung. Ein seltsames Mädchen – noch seltsamer als ihre Eltern.«
    »Was meinen Sie damit?«
    Zirner seufzte und zuckte die Achseln. »Wissen Sie, im Wendland lassen sich alle möglichen Käuze nieder: Atomkraftgegner, Aussteiger, Künstler – oder solche, die sich dafür halten.«
    »Ähm   … könnten Sie etwas deutlicher werden?«
    »Nur zu gern. Ich mache keinen Hehl aus meiner Meinung. Christines Mutter, Frau Herforth – ich weiß den Vornamen nicht mehr   –, hatte ihren Gutshof geerbt, und noch einiges Geld dazu. Eine unsympathische Person, verschroben und hochnäsig zugleich. Jedenfalls ging sie keiner Arbeit nach. Stattdessen züchtete sie auf ihrem Hof Katzen. Nach Christines Verschwinden soll sie vollkommen durchgedreht sein und am Ende mit keinem Menschen mehr gesprochen haben – nur noch mit den Katzen. Soweit ich weiß, ist sie in einer Pflegeanstalt gelandet, mit kaum fünfundvierzig Jahren. Wenige Jahre später muss sie gestorben sein, denn ihr Gutshof ging in den Besitz des Landes über und wurde öffentlich zum Verkauf angeboten. Niemand hatte Interesse, und seitdem ist das Herforthsche Anwesen zunehmend verfallen. Ein Teil der Katzen ist verwildert, hat sich fortgepflanzt wie die Karnickel und plagt noch heute die Einwohner im Dorf. Auch ich hatte schon Ärger mit ihnen. Die dreistenViecher dringen in die Gärten ein und stehlen sich sogar ins Haus, wenn man nicht aufpasst. Besonders gern plündern sie die Mülltonnen im Ort, und bei Hans Gätner, unserem einzigen Landwirt, reißen sie gelegentlich ein Huhn.«
    »Und wer war Christines Vater?«
    »Ein Kerl namens Martin Herforth – ein erfolgloser Kunstmaler, der kitschige Sonnenuntergänge und Landschaftsbilder vom Wendland pinselte. Soweit ich weiß, hat er damit kaum genug verdient, um sich ein anständiges Hemd leisten zu können. Allerdings sah er gut aus und hatte Erfolg bei Frauen   …« Zirner ließ ein verächtliches Schnauben hören. »Wahrscheinlich tröstete er sich damit über seine nutzlose Existenz hinweg.«
    »Sie halten nicht viel von Künstlern?«, folgerte Lea.
    »Es kommt darauf an«, gab Zirner zurück. »Ich habe nichts gegen Menschen, die sich von ehrlicher Arbeit ernähren, ob sie nun Häuser bauen oder Bilder malen. Aber es gibt auch Dilettanten, die schlicht nicht in der Lage sind, einer ordentlichen Tätigkeit nachzugehen – Künstler aus Not statt aus Berufung, Leute, die sich

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