Das weiße Mädchen
mütterlichen Tons. Er würde schon von selbst an alles denken, was er brauchte – und was er wirklich brauchte, wusste er besser als sie.
Nachdenklich trank Lea ihren Kaffee aus, während sie David in seinem Zimmer wühlen hörte.
Er ist wirklich erwachsen
, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut. Lange hatte sie geglaubt, dies würde ihr erst bewusst werden, wenn er eines Tages die erste Freundin mit nach Hause brachte. Dass er sich jedoch nach ihren »Dates« erkundigte, verriet seine Reife deutlicher als irgendeine Schwärmerei für ein gleichaltriges Mädchen. Offenbar war ihm längst aufgefallen, dass Lea nie Männerbekanntschaften hatte. Im Gegensatz zu ihr schien er kein Problem mit diesem Thema zu haben; im Gegenteil, er hatte fast ein wenig mitleidig geklungen.
Auch für Lea wurde es Zeit, denn um neun Uhr erwartete man sie in der Redaktion. Also trank sie ihren Kaffee aus, stand auf und ging ins Bad. Rasch duschte sie, nahm sich gerade genug Zeit für eine notdürftige Gesichtspflege, verzichtete aber auf Lidschatten und Lippenstift und eilte in ihr Zimmer zurück, um sich bürofertig zu machen. Noch immer klangen ihr Davids Worte in den Ohren, und einen Augenblick lang musterte sie sich vor dem mannshohen Spiegel.
Warum eigentlich gibt es seit Jahren keinen Mann in meinem Leben? ,
fragte sie sich.
Liegt es an mir?
Ihr Spiegelbild beantwortete diese Frage nicht. Lea war sechsunddreißig Jahre alt, wirkte jedoch jünger. Eigentlichgefiel sie sich selbst recht gut, vor allem mit der randlosen Brille, die sie erst seit kurzem trug, und den halblangen Haaren. Gewiss, im Profil war ein kleiner Bauch zu erkennen, aber für ihre runden Hüften hatte sie sich nie geschämt, sondern empfand sie als weiblich und zum Gesamteindruck passend.
Keine Ahnung, was ich falsch mache
, seufzte Lea innerlich, entschied sich für eine leichte Stoffhose und steckte die Bluse in den Bund, weil sie plötzlich Lust hatte, ihre Taille zu betonen.
Als sie auf den Flur zurückkehrte, wuchtete David eben seinen Koffer zur Tür.
»Soll ich dich nicht wenigstens zur Haltestelle bringen?«, bot Lea an.
»Ach was, das ist doch nicht weit«, wehrte David ab. »Also dann: Mach’s gut, Mum!«
»Ruf mich an, wenn ihr angekommen seid.«
»Ja, ja.«
Am liebsten hätte sie ihn jetzt in den Arm genommen. Die letzte Gelegenheit dazu, vor einem Kurzurlaub Leas an der Ostsee, war schon ein halbes Jahr her – also eine Ewigkeit, gemessen am Entwicklungstempo eines sechzehnjährigen Jungen. Womöglich war er schon zu alt für derartige Zärtlichkeiten.
»Ja, dann …«, begann Lea unsicher und hielt sich mit einer Umarmung zurück.
Er kam ihr zuvor, schlang seine Arme um sie und erlöste sie aus ihrer Verlegenheit. Erleichtert hielt Lea ihn einen Moment fest.
Er bleibt mein Junge
, dachte sie dankbar.
Dann machte David sich von ihr los und griff nach seinem Koffer. Lea öffnete bereits den Mund, doch wiederum kam er ihr zuvor, diesmal grinsend.
»Sag’s nicht.«
Gehorsam schluckte Lea die Worte
» Pass auf dich auf
« hinunter. Amüsiert über das stumme Einverständnis erwiderte sie sein Lächeln. »Viel Spaß!«
»Dir auch, Mum.«
David öffnete die Wohnungstür, wuchtete den Koffer hinaus und ging, ohne noch einmal zurückzublicken.
Inzwischen war es Viertel vor neun, und Lea musste sich beeilen, ihre Sachen zu packen. Eine volle Minute suchte sie nach dem Autoschlüssel, den sie trotz aller Mühe immer wieder verlegte. Dann verließ sie das Haus, warf sich in ihren kleinen roten Fiesta und quälte sich durch den dichten Verkehr in die Innenstadt. Am Ende war es bereits nach neun, als sie das Verwaltungsgebäude der Zeitung erreichte und dem Pförtner gehetzt zunickte, während sie zum Fahrstuhl spurtete.
In dem Großraumbüro, wo sich ihr Arbeitsplatz befand, unterhielt sich Chefredakteur Ehrlig gerade mit Jörg Hausmann, einem vor drei Monaten eingestellten Kollegen.
»Tut mir leid, ich bin ein wenig spät«, sagte Lea, als sie zu ihrem Platz rauschte. »Sie wissen ja: Mein Sohn geht heute auf Klassenfahrt, und …«
»Guten Morgen!« Der Chefredakteur lächelte. »Kein Problem. Die Montagsausgabe ist fast druckreif. Ich brauche nur noch einen Bericht über den Crash auf der Umgehungsstraße. Jörg hat bereits mit dem städtischen Krankenhaus telefoniert. Eines der Unfallopfer ist nur leicht verletzt und wird uns sicher ein paar Details erzählen.« Ehrlig nannte alle Kollegen beim Vornamen. »Und Sie, Lea,
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