Das weiße Mädchen
der Durchfahrt nach Sachsen-Anhalt. Bin irgendwo nahe Lüchow falsch abgebogen, hab mich im Dunkeln verfahren und bin auf diese einsame Landstraße geraten. An das Ortsschild »Verchow« kann ich mich jedenfalls erinnern, weil ich froh war, überhaupt auf eine Ortschaft zu stoßen. Etwa 1 km vor dem Ortseingang schwebte das Gesicht am Straßenrand, auf Kopfhöhe, Körper unsichtbar (also vermutlich dunkle bis schwarze Kleidung). Es war eindeutig das Gesicht eines Mädchens bzw. einer Frau. Hab mich noch gefragt: Huch, was steht die denn da rum, spätabends bei Frost an so ’ner einsamen Straße? Erst wollte ich sogar anhalten, aber plötzlich hatte ich Angst: Die sah irgendwie seltsam aus, das Gesicht kalkweiß und ganz starr, wie auf Droge. Bin stattdessen aufs Gas gegangen und weitergefahren.
»Merkwürdig«, murmelte Lea im selben Moment, als ein Schatten auf sie fiel. Abwesend wandte sie sich um. Jörg stand hinter ihr, zwei duftende Tassen mit Kaffee in der Hand.
»Huch, was ist das denn?«, fragte er, als sein Blick auf das Gespenster-Logo fiel.
»Das frage ich mich auch«, antwortete Lea und rückte ein Stück zur Seite, sodass er mitlesen konnte. »Der Link kam mit einer E-Mail ohne Absender.«
Jörg zog seinen Stuhl heran, überflog die Seiten und schließlich auch die Mail, die Lea ihm zeigte.
»Klingt interessant«, meinte er. »Wahrscheinlich ist es nur irgendein Spinner, aber wir sollten die Sache mit Ehrlig besprechen.«
Die Gelegenheit ergab sich nach der Mittagspause, denn sowohl Lea als auch Jörg hatten Texte abzuliefern und fanden sich im Büro des Chefredakteurs ein.
»Ich wollte Sie übrigens noch fragen, was Sie hiervon halten«, sagte Lea und reichte ihrem Chef einen Ausdruck der anonymen E-Mail sowie der Forenseite.
Ehrlig überflog die Papiere in der ihm eigenen Art: Den Kopf in beide Hände gestützt und so tief niedergebeugt, dass er wie ein zu groß geratener Grundschüler wirkte, der mühsam seine ersten Worte buchstabiert. Als er schließlich aufsah, schüttelte er verständnislos den Kopf.
»Das ist doch Quark«, sagte er resolut und legte die Blätter beiseite. Dabei musterte er Lea, als könnte er nicht recht glauben, dass eine lang gediente Mitarbeiterin ihm die Zeit mit solchen Belanglosigkeiten stahl.
»Na ja – interessant ist es schon«, beeilte sich Jörg, seine Kollegin in Schutz zu nehmen. »Immerhin scheint die Sache ja so etwas wie ein lokaler Mythos zu sein.«
»Im Wendland vielleicht«, schränkte Ehrlig ein. »Das ist Kreis Lüchow-Dannenberg und fällt nicht einmal in unsere Zuständigkeit. Was interessiert es unsere Leser, wenn im hintersten Winkel Niedersachsens irgendeine Halloween-Maske an einer Landstraße herumspaziert?«
»In Lüchow gibt es ebenfalls eine Kreiszeitung«, warf Lea ein. »Vielleicht sollte ich einmal anrufen, ob man diesen Hinweis auch dort bekommen hat.«
» Hinweis
nennen Sie das?« Ehrlig machte eine wegwerfende Handbewegung. »Eine anonyme E-Mail aus zwei Sätzen? Für mich ist das bestenfalls ein Hinweis, dass wir dringend unsere Spamfilter überprüfen sollten.«
»Immerhin ist von einem Mord die Rede«, sagte Lea nachdenklich. »Sollten wir nicht zumindest … Ich meine: vorsichtshalber …«
»Die Polizei einschalten?«, kam Ehrlig ihr zuvor. Seufzend blickte er auf seinen Computerbildschirm, wie stets, wenn ihm ein Gespräch lästig wurde. »Sie machen sich doch lächerlich, Lea, wenn Sie damit zur Polizei gehen.« Er ergriff die Maus und klickte. Aus dem Augenwinkel konnte Lea erkennen, dass er den Dienstplan der kommenden Woche aufrief.
»Also gut«, lenkte sie ein. »Ich dachte nur …, ich weiß auch nicht. Ich hatte einfach das Gefühl, dass an der Sache etwas dran sein könnte.« Sie lachte verlegen. »Dies wäre dann wohl der passende Zeitpunkt für eine ironische Bemerkung zum Thema ›weibliche Intuition‹.«
»Ach, hören Sie auf«, wehrte Ehrlig ab, ohne auf ihren scherzhaften Ton einzugehen. »Sie wissen, dass ich eine Menge von Ihnen halte. Normalerweise haben Sie ein prima Gespür für interessante Storys. Aber diese Sache ist allenfalls etwas für eine kleine Wochenzeitung im Wendland, zwischen Lokalanzeigen und der Ankündigung für den nächsten Dorfmarkt. Unser Niveau liegt, so hoffe ich, doch ein paar Ellen höher. Geistergeschichten gibt es in meiner Zeitung nicht. Andernfalls hätte ich letzte Woche auch diese Geschichte von der Rentnerin in Barmstorf bringen können, die sich
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