Das weisse Meer
war Mittwoch Daniels Tag. Auf der Couch, die gleichzeitig Onkel Georgs Bett war, betrachteten wir die Fotos in den Silva -Büchern: endlose Eiswüsten in Alaska, Indianer mit tätowierten Körpern und leuchtfarbene Tiefseefische auf dem Grund des Meeres. Ich brachte Apfelkuchen mit, und Onkel Georg sagte, dass dieser sogar noch besser sei als selbstgemachter und dass es gut sei, dass ich meine Zeit nicht mit Kuchenbacken verbrächte.
An einem Mittwoch im März öffnete mir eine blondierte, korpulente Frau die Tür, an der noch immer der vertrocknete Adventskranz hing. Sie quetschte meine Hand und sagte: Keller, Physiotherapie. Der Onkel Georg lag ausgestreckt auf dem Sofa, mit den Füßen zu mir und nur mit einer Unterhose und einem ausgeleierten Unterhemd bekleidet. Seine Füße ragten weit über das Sofa hinaus, und mir wurde einmal mehr bewusst, wie groß er war. Die Physiotherapeutin stützte die Hände in die Hüften. Sie sind mir einer, sagte sie, und grinste anzüglich: Dass Sie mir nie erzählt habt, was für eine hübsche junge Bekannte Sie haben. Der Onkel Georg lächelte gequält. Ich bin die Nichte, erklärte ich. Ach natürlich, rief die Physiotherapeutin aus und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, die Nichte. Verlegen setzte ich mich auf einen Stuhl und begann, in einem Bildband über die Indianer des Amazonas zu blättern. Die Frau hob Onkel Georgs lange, nackte Beine abwechselnd an und knickte die Knie ein. Onkel Georg hielt die Augen geschlossen. Ich vertiefte mich in den Amazonas-Bildband, als würde ich mich für die Bilder für Fotografen lächelnder Menschen, deren Nasenflügel von dicken Elfenbeinzähnen durchstoßen waren, und im Sonnenlicht strahlender Steppen interessieren. Der Anblick des mageren, von Altersflecken übersäten Körpers Onkel Georgs, dessen lange Glieder die Frau hin- und herbewegte, rührte mich und war mir zugleich unangenehm. Ich schlug ein weiteres Buch auf, Geheimnisvolle Tiefseewelten : Die geheimnisvolle Welt der Meere ist heute noch genauso unerforscht wie das All, der Weltraum, auf den sich unser Entdeckerdrang richtet, las ich. Ich betrachtete die Bilder von Regenbogenfischen und grellroten Seesternen, bis ich die Stimme der Physiotherapeutin hörte: So, jetzt wird wieder aufgestanden. Sie wollen nun bestimmt mit Ihrem Besuch alleine sein, sagte sie und grinste wieder. Sie zog Onkel Georg die hautfarbenen Stützstrümpfe mit einer ruckartigen Bewegung bis über die Knie und half ihm in Hose und Pullover. Als sie ihm die Schuhe anziehen wollte, sagte er: Das kann ich selber, das ist ganz einfach. Nachdem die Physiotherapeutin gegangen war, sagte Onkel Georg: Die ist eben eine Dumme, weißt du, es hat keinen Sinn, sich aufzuregen.
Gestern sei er im Kino gewesen, erzählte der Onkel Georg. Er gehe gerne ins Kino, vor allem im Sommer, sagte er, schon wegen der angenehmen Kühle dort. An den Filmtitel könne er sich nicht mehr erinnern, etwas Englisches. Überhaupt sei alles englisch gewesen, und er habe nicht viel verstanden, da er nicht alles gleichzeitig tun könne, die Bilder anschauen, die fremde Sprache hören und die Buchstaben lesen. Es gab schöne Berge und Schluchten in dem Film, sagte er. Ein Bus war verunglückt, ein Schulbus, der von der Straße geriet und in die Tiefe stürzte, alle starben, außer der Busfahrerin und einem einzigen Kind, und alle waren traurig, vor allem das Kind, das übrig geblieben war. Ich habe diese Geschichte nicht ganz verstanden, gab Onkel Georg zu, aber das macht nichts. Ich gehe ohnehin nur ins Kino wegen der Klimatisation und wegen der anderen Leute. Die Leute im Kino sind ganz ruhig und konzentriert, manchmal weinen sie. Aber sie mögen es nicht, wenn man ihnen beim Betrachten des Filmes zusieht, und wenn sie es bemerken, hören sie auf zu weinen und beginnen, mit irgendwelchen Tüten zu rascheln, oder gucken böse. Also schaue ich nur heimlich, sagte Onkel Georg, und zwischendurch sehe ich mir die Bilder auf der Leinwand an.
Ich würde gerne im Kino sterben, sagte der Onkel Georg noch. Das scheint mir doch ein angenehmer Tod zu sein. Und außerdem gibt es zwei Türen , aus denen sie mich nach Filmende hinaustragen können.
Es war nicht wegen Onkel Georg, weshalb ich mich in der folgenden Woche entschloss, mit den Kindern ins Kino zu gehen. Schneewittchen war einer der ersten Filme gewesen, die ich im Kino gesehen hatte; Pinocchio , Schneewittchen , Aristocats und Dick und Doof . Ich war wohl auch älter
Weitere Kostenlose Bücher