Das weisse Meer
bis zur Gegenwart , Indianer des Amazonas , Eisenbahnen der Welt , und: Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung 1939 . Über dem Sofa hing ein Bild, kaum größer als ein Blatt Papier und voller winziger Kreaturen, Menschen, Tiere oder tierhafter Menschen, die absurde Sachen machten. Ein Mann schlug seinen Kopf an die Mauer, ein anderer umarmte einen Baum, ein dritter grub sich ein Grab. Wir fragten Onkel Georg, weshalb die Menschen auf dem Bild so böse seien, eine Woche später war das Bild verschwunden, Onkel Georg hatte es in einer Schublade versteckt. Nun hing das Bild wieder da, neben dem eingerahmten Werbeplakat eines Reisebüros, mit dem Foto einer mir unbekannten Gegend in Süditalien und dem schnörkeligen Schriftzug: Das Land, in dem die Zitronen blühen .
Der Onkel Georg war leicht behindert. Er war zu spät zur Welt gekommen, erzählte man, ganze zwei Wochen, und durch die mangelnde Sauerstoffzufuhr in der Gebärmutter war ein Teil seines Hirns nicht genügend durchblutet worden. Er hatte für Außenstehende kaum wahrnehmbare motorische Defekte, beispielsweise konnten seine Hände keine präzisen Bewegungen ausführen. Er konnte keine Schnürsenkel zubinden und trug deshalb riesige farbige Turnschuhe mit Klettverschlüssen. Die Merkwürdigkeiten, die durch seine Behinderung verursacht waren, wurden jedoch übertroffen durch die Eigenheiten, die er sich selbst zugelegt hatte, bewusst oder unbewusst. Um seine Person rankten sich Geschichten, die er selbst in den verschiedensten Versionen erfand, erzählte und je nach Adressat ausschmückte. Im Mutterbauch war es weich und warm, erzählte Onkel Georg, also weshalb sollte ich früher geboren werden? Und er erzählte von Jonas, der zu faul war, um nach Ninive zu laufen, zu faul sogar, um vom Wal ausgespuckt zu werden. Was soll ich auf dieser Welt, so dachte Jonas, wenn es so viel schöner ist im Walfischbauch. Also aß er, aß alles, was der Wal nicht verdaut hatte, und er wurde dicker und dicker und wollte nicht mehr heraus. Doch der Wal spuckte Jonas hinaus in die Welt, wo es kalt war und hell. Und Jonas machte sich auf, nach Ninive und weiter, und nur manchmal sehnte er sich zurück nach der Wärme im Innern des Wals.
Ja ja, die Esther, meinte Onkel Georg, als wir über die verstorbene Tante sprachen. Seit sie ein Schlägli gehabt habe, einen Schlaganfall, habe sie immer behauptet, die anderen Menschen seien verrückt. Der Onkel Georg besuchte sie alle zwei Wochen im Pflegeheim, wo sie wohnte, in diesem Sterbehospiz, so sagte er, und fast immer fuhr er sie im Rollstuhl auf dem Hundespazierweg den Fluss entlang zum Restaurant im Sportzentrum, wo sie, wie sie sagte, am liebsten aß. Dabei konnte sie nur noch weiche, breiige Sachen essen, Kartoffelpüree oder so, wegen des Gebisses. Trotzdem dachte ich, sie würde noch ewig leben oder bestimmt länger als ich, so Onkel Georg, oder als deine Mutter, die immer von schwacher Gesundheit gewesen war. Wir aßen einen Apfelkuchen, den der Onkel Georg frisch von der Gourmessa gekauft hatte, wie er sagte. Ich mag diese Apfelkuchen lieber als die selbstgebackenen, sie haben diese glibberige, durchsichtige Schicht obenauf, sagte Onkel Georg. Er fragte nicht viel, nur nach den Kindern, deren Namen er verwechselte. Nein, Paul ist der Größere, korrigierte ich ihn, Benjamin ist der Kleine, aber du hast sie ja so gut wie nie gesehen. Benjamin, der Jüngste, verkauft nach Ägypten, sagte der Onkel Georg. Nach Daniel fragte er nicht.
Mein Bruder und ich hatten früher ein Spiel erfunden, das hieß: Der Schorsch und der Andere . Wir spielten das Spiel nie in Onkel Georgs Gegenwart. Das Spiel ging so, dass wir mit schlenkernden Armen durch die Gegend liefen und immer, wenn wir uns begegneten, musste ich den Kopf schief legen und fragen: Wer bist du? Mein Bruder antwortete dann: Ich bin der Schorsch . Oder aber: Ich bin der Andere . Dann war das Spiel zu Ende und begann von neuem. Das Spiel war eigentlich sinnlos, und ich glaube, dass weder ich noch mein Bruder wussten, wer dieser Andere hätte sein sollen.
Nach diesem Tag besuchte ich den Onkel Georg wieder jeden Mittwoch. Die Kinder hatten zwar, wie wir früher, mittwochnachmittags frei, doch Kinder heutzutage fanden kaum mehr Zeit für einen Onkel Georg. Da Paul in der zweiten Klasse schon Wurzelrechnungen anstellte, besuchte er einen Förderkurs für Hochbegabte, und Benjamin musste zu einer Logopädin, da er lispelte wie der Willi aus der Biene Maja . Außerdem
Weitere Kostenlose Bücher