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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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den Kaffee schwarz. Aus Liebe blickte er sich um, sagte ich. Gleichzeitig aber liebte er sie zu wenig, um ihr bedingungslos zu vertrauen. Aus Liebe und aus fehlender Liebe also. So, meinte Sarah, Liebe. Dann gibt es natürlich andere Theorien, fuhr ich fort, Orpheus ist der Künstler, und Eurydike wäre das Wesen der Kunst, das im Angesicht des Tages schon wieder verloren ist. Sarah hatte ihren Kaffee schon ausgetrunken und ließ den Becher achtlos auf den Boden fallen. Ich bin übrigens Sarah, sagte sie übergangslos und streckte mir die Hand hin. Ich weiß, sagte ich und nannte meinen Namen. Danach setzte ich mich neben Sarah. Sarah schmiss jedoch kurz darauf das Studium und zog weg, in die größere Stadt.
    Sarah streicht sich mit der flachen Hand über ihren Bauch, den man unter dem grobgestrickten Pullover nicht sehen kann. Ihr Bauch unter dem Pullover ist bestimmt immer noch flach wie ehedem, flach und weiß, mit einem leicht herausstehenden Bauchnabel, denke ich, wie ein Knopf, den man drücken kann, und es passiert etwas, so dachte ich, als ich Sarahs Bauch zum ersten Mal sah. Aber es passiert nichts, Sarah sagt nur, sie hätte ihre Wohnung aufgegeben und sei zu Lars gezogen. Sie blickt mich an, halb fragend, halb entschuldigend. Das macht am meisten Sinn jetzt, sagt sie. Ich warte darauf, dass sie noch mehr sagt, dass alles schlimm ist oder dass sie jetzt meine Hilfe brauche, aber Sarah sagt nichts dergleichen. Ihr Gesicht bleibt regungslos, wie das des Mädchens auf dem Bildnis von Petrus Christus, mit sorgfältig modellierter Alabasterhaut, die sich beinahe durchsichtig über die Wangenknochen spannt.
    Sarah besuchte mich alle paar Monate in der kleinen Stadt. Nur einmal brachte sie ihn mit. Ich fand ihn erst nicht besonders sympathisch, das ist Lars, sagte Sarah, als er hinter ihr in der Wohnungstür stand. Er sah normal aus, blond, unscheinbar und jungenhaft. Ich hatte nur mit Sarah gerechnet; ich hatte mein Zimmer nicht aufgeräumt, und die Fotos von Russland lagen ausgebreitet auf dem Küchentisch, die ich nun sofort wegräumte, als wäre es pornographisches Material. Ich habe viel von dir gehört, sagte er, was ich von ihm nicht sagen konnte. Er sprach schnell, abgehackt, in der Intonation von Fragesätzen, auf die er jedoch nie eine Antwort erwartete. Ich fragte mich, was Sarah an ihm gefiel. Ich fragte mich, über was sie sprachen, wenn sie alleine waren, ob sie überhaupt miteinander sprachen. Wir redeten über Politik. Lars musterte mich zuweilen, wie eine seltene Tierart. Aber vielleicht kam mir dies auch nur so vor, und ich war es, die ihn beobachtete. Ich war beinahe froh, als er am nächsten Tag weiterfuhr und Sarah alleine noch ein paar Tage blieb.
    Abend für Abend saß sie am Tresen der Bar, in der ich arbeitete. Ich stellte ihr ein Getränk hin, es machte ihr nichts aus, dass ich meist keine Zeit dazu hatte, mich mit ihr zu unterhalten. Sie las in einem dicken, zerfledderten Buch, das irgendwie esoterisch aussah, einem Science-Fiction-Roman oder etwas Ähnlichem. Selten sprach sie mit den anderen Gästen oder anderen Freunden, die vorbeischauten. Wo ist Jeanne?, fragte der alte Sevcik, wenn sie wieder weg war, Sarah, so sagte er, sähe genauso aus wie Jeanne d’Arc, mit diesen breiten Wangenknochen und dem halblangen Pagenschnitt, wie ein Helm. Ich fragte, ob er diesen alten Schwarzweißfilm meinte, der immer wieder das Gesicht der leidenden Jeanne d’Arc in Nahaufnahme zeigt; ein Gesicht, dem kein Schmerz etwas anhaben kann. Ich rede von Jeanne d’Arc, entgegnete Sevcik entrüstet, ich rede von Jeanne d’Arc, der Befreierin Frankreichs, und du fragst nach einem Film! Elle portait que des vêtements d’hommes, sagte Sevcik, mais elle était la plus belle de toutes les filles, ich war überrascht, wie gut er französich sprach, wusste aber nicht, ob er Jeanne d’Arc oder Sarah meinte. Elle n’avait qu’une seule robe en rouge et elle était la plus belle.
    Die Kellnerin bringt die Getränke. Das Weinglas ist so voll, dass sich auf der roten Serviette ein Rand in dunklerem Rot um den Fuß des Glases bildet. Sarah sitzt mir gegenüber mit diesem Bauch, dem man noch gar nichts anmerken kann, und ich überlege, ob man mir wohl etwas anmerken kann. Wenn ich nichts sage, wird sich auch nichts ändern. Sarah wird das Kind bekommen, und ich werde mich freuen, vielleicht wird sie mich sogar fragen, ob ich Patentante werden wolle.
    Das Mädchen auf dem Bild von Petrus Christus lächelt nicht,

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