Das weisse Meer
tatsächlich ihren spitzen Stiefel ins Gesicht rammen würde. Dieser taumelte nach hinten. Anna verlor kurz das Gleichgewicht und hielt sich an mir fest, wir wären beinahe über die Bierstation gestürzt. Der schöne Koch machte die Musik aus. Er kannte den Künstler, wir konnten ihn nur schwer davon abhalten, die Polizei oder einen Krankenwagen zu holen. Anna sagte, sie sei ausgerutscht. Die Nase des Künstlers blutete stark, aber er gab sich tapfer, nahm die Servietten, die ich ihm hinstreckte, und sagte: Sie ist wahrscheinlich nicht gebrochen. Als er auf die Toilette ging, um sich das Blut abzuwaschen, sagte Anna, sie sei sich nicht sicher, ob es nicht doch der andere gewesen war. Doch dieser war nicht mehr zu sehen.
Die Party ging weiter, ich saß auf der Fensterbank und fragte mich, wo Anna blieb, als der Künstler sich neben mich setzte. Er musterte mich und sagte: Das habt ihr absichtlich gemacht! Ich antwortete nicht. Ich überlegte, ob Anna einfach nach Hause gegangen war, ohne sich zu verabschieden, wie sie es manchmal tat, wenn sie zu betrunken war oder ihr eine Situation über den Kopf zu wachsen drohte. Der Künstler zündete sich eine Zigarette an: Das war Absicht, ich bin mir sicher, wiederholte er dann. In seiner Stimme schwang Bewunderung mit. Der Tresen war nass, sagte ich. Jetzt fiel mir ein, an wen er mich erinnerte. Er sah aus wie dieser französische Schauspieler, der mit dem schrecklich kitschigen Film namens Les Amants du Pont Neuf berühmt wurde und der mit zwanzig Jahren schon ein sehr altes zerfurchtes Gesicht hatte, aber den Körper eines Tänzers und die Hände eines Taschenspielers; zuletzt sah ich ihn im Kino als Fremdenlegionär in der Hitze der Wüste von Djibouti. Der Künstler fragte: Kennen wir uns nicht irgendwoher?, und nannte mir seinen Namen. Nein, sagte ich.
Er wohnte im Hinterzimmer einer Fabrikhalle, die als Gemeinschaftsatelier diente, auf der anderen Seite des Flusses. Um diese Zeit war niemand da. In der kleinen Kochnische spülte der Künstler zwei Gläser aus, auf deren Boden sich eine weiße, pelzige Schicht gebildet hatte, goss einen eher billig aussehenden Whiskey ein und reichte mir eines. Ich fand ein weiteres Glas, das ich mit Wasser füllte. Im kleinen Raum standen mehrere Objekte, die aussahen wie menschliche Organe oder Ähnliches und deren Oberfläche mit weißen Daunen beklebt war. Ich sah keinen Grund, ihn zu fragen, was die Objekte darstellten. Durch das Fenster konnte man das schwarze Wasser des Flusses sehen.
Unter dem Fenster lag ein Haufen Bücher, ich nahm eines in die Hand, es war aufgequollen, die Seiten klebten aneinander. Das war der letzte Regen, sagte der Künstler, die Bücher sind Backsteine geworden, ich könnte die Fenster damit zumauern, vielleicht könnte ich dann einmal wieder schlafen, ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen, sagte er.
Das Bett war die einzige Sitzgelegenheit, wir hatten eine Decke um uns gelegt, da es kalt war. Der Whiskey brannte vom Rachen hinauf bis in die Nasennebenhöhlen. Im Fernsehen kam die Wiederholung einer Sendung über die Wiedereröffnung der alten Brücke von Mostar, die während des Krieges von kroatischen Streitkräften zerstört worden war. Es war ein pompöses Spektakel, Gäste aus sechzig Ländern, Balkan-Folklore, Carmina Burana und Freude, schöner Götterfunken , Mädchen in pastellfarbenen Kleidern mit Blumenkränzen im Haar, wie in einem Waldorf-Schultheater, dazwischengeschnitten Kriegsaufnahmen, schließlich flogen Tauben in die Luft. Die Brückenspringer hielten Fackeln in den Händen. Doch den Sprung der Brückenspringer verpasste ich, da der Künstler mich zu küssen begann.
Jonas und ich waren in Mostar, als die Brücke noch nicht zugänglich war und die besonders mutigen jungen Männer der Stadt nur heimlich von der Brücke sprangen. Mit einem klapprigen Bus fuhren wir durch die bosnischen Berge, die Hochhäuser der Peripherie von Sarajevo waren übersät mit Einschusslöchern, an der Autostraße verkauften alte Frauen Eier und Himbeeren, die hellroten Ziegel der neugebauten Häuser am Hang waren noch unverputzt. In Mostar wohnten wir im Jugendzentrum einer katholischen Hilfsorganisation im muslimischen Teil der Stadt, in einem der etwas zu farbigen Häuser, an denen Schilder angebracht waren, welches EU-Land das Geld für den Bau dieses Hauses gespendet hatte. Es gehe darum, gegen die Teilung der Stadt anzukämpfen, dass wenigstens die Kinder der einen Seite des Flusses wieder mit
Weitere Kostenlose Bücher