Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
Vom Netzwerk:
sich.
    Sarah und ich saßen im Park auf den Schaukeln auf dem Hügel, der schwindlig blaue Himmel über uns, und ich sagte: Wäre schön, wenn jetzt Winter wäre. Spinnst du?, meinte Sarah und kickte mit den nackten Zehen Kieselsteine weg. Ich dachte an den im Licht der Straßenlaternen schimmernden schneebedeckten Platz, an die weißbeladenen Tannen und die an den Fensterscheiben zerberstenden Schneebälle. Ich hätte nur gern den kühlen Kopf eines Winterabends gehabt, schneeweiße Gedanken und dieses Gefühl, das früher benennbar gewesen war. Aber es war Sommer, und die Sonne war hell, dass es die müden Augen blendete. Es war über dreißig Grad warm, das Gras im Park war längst gelb und plattgetreten, an einigen Stellen bestand der Boden nur noch aus braunem Staub. Pärchen lagen aneinandergeschmiegt auf farbig bedruckten Tüchern, Kinder und Hunde rannten um sie herum, Rauch und der Geruch von Spiritus lag in der Luft, einige Leute spielten Federball, jemand klimperte auf einer Gitarre herum und andere sangen falsch dazu, die Dealer gingen ihren Geschäften nach. Die Trommler waren glücklicherweise für kurze Zeit verstummt. Hinter den pastellfarbenen Altbaureihen und der Bahnschneise türmten sich gläserne Neubauten. Sarah wandte sich mir zu und knüpfte mir ein rotes Band, das sie auf dem Boden gefunden hatte, um das Handgelenk. Das Band sah etwas eklig aus. Wünsch dir was, sagte sie. Ich lachte. Kinderkram, dachte ich, Sarah machte so was oft, aus heiterem Himmel. Sarah blickte mich an. Du musst es in den Knoten hineinwünschen, sagte sie, erst wenn das Band abfällt, geht der Wunsch in Erfüllung. Sarahs Augen waren ganz hell, grau mit einigen dunklen Sprenkeln, die darin schwammen. Ich dachte nur einen Moment daran, dass man sich immer das Falsche wünscht, doch Sarah merkte nichts, sie hatte sich mit den nackten Füßen vom staubigen Boden abgestoßen und flog auf der quietschenden Schaukel dem Himmel oder der Neubausiedlung hinter der Bahnschneise entgegen.
    Ich bleibe im Speisewagen sitzen, obwohl sich der Zug geleert hat und es wieder freie Plätze gibt. Auf bewaldete Hügel folgen weite Felder, auf denen dreiflüglige Windräder stehen, die Rotoren drehen sich nicht. Ich kenne die Nervosität von früher, doch damals hatte sie einen Grund. Mein Bruder und ich warteten im Zug auf unseren Vater, der vor der Abfahrt noch schnell eine Zeitung oder ein Getränk oder Schokolade kaufen wollte. Der Zug war bereits angefahren, als er trotzdem noch auftauchte; er war in den letzten Wagen eingestiegen und lachte. Wir fuhren durch die gebirgige Landschaft und schoben große Schokoladenstücke in unsere Münder, als könnten wir so die Angst auslöschen, die während der ganzen Fahrt nicht verging.
    Die Frau mit der orangefarbenen Schürze hat die Kaffeetasse längst weggeräumt. Seit man nicht mehr rauchen kann, wird der Speisewagen ohnehin kaum noch frequentiert. Wahrscheinlich werden sie den Alkohol auch bald abschaffen. Mir gegenüber sitzen zwei Männer in dunklen Anzügen, sie essen Leberkäse mit Kartoffeln und haben ihre Laptops neben den Tellern aufgeklappt. Ich bestelle nun doch ein Bier.
    Es war nicht die Nacht, sondern der Morgen. Ich hatte ihn getroffen, ich hatte zweimal den Nachtbus verpasst, war wieder umgekehrt, und schließlich gab es keinen Nachtbus mehr, und ich hatte zu wenig Geld für ein Taxi. Es war nicht die Nacht, sondern der Morgen, der mich erschütterte. Obwohl wir im selben Bett schliefen, für einmal, was nicht viel zu bedeuten hat. Obwohl mein Gesicht etwas zu nah an seinem Nacken lag, so dass mein Atem die feinen Härchen berührte, und er einmal versehentlich die Stelle an meinem Oberschenkel streifte, wo die Haut ganz weich ist, einen Moment zu lange, bevor er seine Hand zurückzog. Obwohl ich nur vorgab zu schlafen und wusste, dass auch er wach lag. Es war längst hell, aber die Vorhänge ließen nur schmale Lichtstreifen ins Zimmer. Ich schlug ein Buch auf, das neben dem Kissen lag. Ich kann dir vorlesen, sagte er, vielleicht kannst du noch mal einschlafen. Er suchte einen Band aus den Büchern, die neben dem Bett lagen, und begann zu lesen: Wir haben uns nur unter dem Schutze unserer in der Kindheit sehr großen Vergesslichkeit der Natur unter Bäume, unter Erker und Dachvorsprünge getraut … Er las mit ruhiger, leicht heiserer Stimme, blätterte einige Seiten und las dann weiter: Schon als Kinder hatte uns das Öffnen von Türen und Fenstern Gleichgewichtsstörungen,

Weitere Kostenlose Bücher